Die Kindheitsräume werden zu Literatur

Die Geschwister Silja und Otto F. Walter widmeten beide ihr Leben dem Schreiben – und liessen in ganz unterschiedlichen Romanen die Elternhäuser zur Kulisse werden.

Von Corinna Jäger-Trees

Das Blatt ist eine archivarische Trouvaille. Darauf haben die Geschwister Silja und Otto F. Walter ihre beiden Elternhäuser – das ältere und das neuere – gezeichnet. Beide waren repräsentative Heimstätten der Verleger- und Nationalratsfamilie Walter in Rickenbach bei Solothurn, aus der die schreibenden Geschwister stammen. Die Häuser werden um 1987 in literarischen Projekten, die Silja und Otto F. Walter in ihre Kindheitsräume zurückführen, zum Zentrum des Geschehens. Das Blatt mit den Zeichnungen verweist auf den unterschiedlichen Umgang mit autobiografischem Rohmaterial, den die Geschwister in ihren Werken Der Wolkenbaum (1991) und Zeit des Fasans (1988) pflegten.

Aufgetaucht Walter
Zwei Zeichnende, zwei Elternhäuser: Skizzen von Otto F. (links) und Silja Walter (rechts).
© Foto: Simon Schmid, NB

Der «Nicht-Zeichner O.F.» im Zusammenhang mit seiner Arbeit an Zeit des Fasans das neuere Elternhaus als Grundlage für seihe Zeichnung genommen und die Realität mit phantastischen Elementen ergänzt: mit dem Auge im Dach und der Gämse in der Wolke. Anders Silja, die das Blatt «irgend einmal in Hände hielt» und sich fragte, «was das solle». «Daraufhin habe ich […] daneben das alte, das Haus meiner Kindheit vom Buch Der Wolkenbaum gezeichnet und zwar, ausser dass es in Wirklichkeit nicht so hoch ist, völlig stimmig.»
In Zeit des Fasans «bewegt sich der 44-jährige Thomas Winter auf den Spuren seines Clans. Im Zentrum wird dessen Geschichte stehen, die Zeit zwischen 1928 und heute im Land CH, die Suche nach dem Eigenen in Vergangenheit und Gegenwart», beschreibt Otto F. Walter sein Projekt. Die von der Schwester des Protagonisten bewohnte Familienvilla spielt dabei eine zentrale Rolle. Allerdings: Die Rickenbacher Realität ist «in diesem meinem fiktiven Projekt – nichts weiter als Rohmaterial, aus dem ich nehme, was ich gerade brauche. Als Beispiel – die Halle und das Treppenhaus des neueren, aber den hohen Flur des älteren.» Die autobiographische Realität bildet hier die Grundlage für eines der wichtigsten literarischen Zeugnisse zum Verhältnis der Schweiz zum Nationalsozialismus. Die heruntergekommene Familienvilla, literarisch konstruiert aus den beiden Kindheitshäusern Otto F. Walters, wird zum Kristallisationspunkt von Schweizer Zeitgeschichte.
Ganz anders bei Silja. Deklariert autobiographisch präsentiert sich Der Wolkenbaum. Der Realität der eigenen Erfahrungen verpflichtet, schildert sie ihre Kindheitsgeschichte im alten Haus. Kaleidoskopartig zusammengefügt sind einzelne Erlebnissplitter des Kindes, der Blickwinkel ist derjenige eines sechsjährigen Mädchens, voller Staunen über die es umgebende Welt. Die Bedeutung von Büchern, Lesen und Literatur sowie ein tiefes Interesse für religiöse Fragen ziehen sich als thematisches Grundgeflecht durch den Text, begleitet von einem Gefühl des Aufgehobenseins in der Schöpfung. Das alte Rickenbacher Haus bildet das Lebenszentrum dieser Kindheitserinnerungen.
Otto F., der langjährige Betreuer und verlegerische Verwalter von Siljas Schreiben, hat das Projekt seiner Schwester immer wieder brieflich begleitet. Zum Erscheinen des Werkes schreibt er ihr voller Begeisterung: «Wieviel Freude über Deinen Wolkenbaum! Wort um Wort – mächtig angerührt habe ich das Buch nun zu Ende gelesen. Ich kann nur staunen, wie ganz ungemein lebendig Kapitel um Kapitel Deine Kindheitsgeschichte da entsteht und zusammenwächst, mit allen diesen farbigen Personen um Dich her.»

Bei Silja (1919–2011) und Otto F. Walter (1928–1994) handelt es sich um das zweitälteste bzw. jüngste von neun Kindern der Familie Walter. Beide widmeten ihr Leben dem Schreiben – Silja als Nonne im Benediktinerinnen-Kloster Fahr, als engagierte Verkünderin einer Gott geweihten Existenzform in die Welt ausserhalb der Klostermauern; Otto F. als Verleger und Schriftsteller, dem engagierte Zeitgenossenschaft auch als Homo politicus ein zentrales Anliegen war.
Während in frühen Jahren Otto F. als literarischer, verlegerischer und buchhalterischer Betreuer und Berater von Siljas Werk amtete, wurde die ursprünglich sehr enge Beziehung nach Siljas definitivem Eintritt ins Kloster und Otto F. Walters Karriere als Verleger und Schriftstelle beim Walter Verlag in Olten, dann bei Luchterhand in Darmstadt und später wieder in der Schweiz lockerer und unregelmässiger, ohne allerdings jemals abzubrechen.
Ein von Philippe Dätwyler moderiertes Radiointerview, das die Geschwister an einem Tisch zusammenführte, brachte die beiden wieder enger zusammen. Briefe aus jener Zeit und das Bändchen Eine Insel finden (1983) sind Zeugnisse ihres intensiven geistigen, literarischen und menschlichen Austausches in den letzten Lebensjahren von Otto F. Anhand der Dokumente im Schweizerischen Literaturarchiv lässt sich diese Beziehung nachverfolgen.

Letzte Änderung 20.08.2020

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