Glück, Wut, Enttäuschung und Begeisterung

In seinem Italien-Essay hat Dieter Bachmann den tradierten literarischen Blick auf das Sehnsuchtsland im Süden um originelle Perspektiven erweitert.

Von Corinna Jäger-Trees

 
 
 
 
 

Das Floss der Medusa von Guéricault (1819), ein Standfoto aus Fellinis «Amarcord» (1973), eine Land- sowie eine Klimakarte Italiens: Dies sind die wichtigsten Dokumente aus einem Konvolut mit Umschlagentwürfen des Autors zum Werk «Die Vorzüge der Halbinsel. Auf der Suche nach Italien» (2008). Dieter Bachmann hantierte mit Schere und Leim, um der Grundidee seines Buches einen angemessenen Umschlag zu verleihen. Guéricault und Fellini – warum tauchen sie im Italien-Kontext auf, der meist ganz anders konnotiert ist? Ein Mail vom 9. November 2006 an Niko Hansen, den Verleger des Hamburger Mare-Verlags, weist die Richtung: «Das Buch […] ist eine (streitbare, politische, zornige, aber immer den Phänomenen nahe) Kreuz- und Querfahrt durch das gegenwärtige Italien. Aber alles andere als ein Reiseführer. Eher böses Erwachen eines Einwanderers beim Platznehmen in Italien». 

Glück, Wut, Enttäuschung und Begeisterung
Umschlagentwürfe von Dieter Bachmann zu «Die Vorzüge der Halbinsel».
© Simon Schmid, NB

«Kreuz- und Querfahrt», «böses Erwachen»: In Zusammenhang gebracht mit Guéricaults Gemälde, das den brutalen Überlebenskampf von Schiffbrüchigen zeigt, gewinnen diese Stichworte Konturen. Eine weitere Erklärungshilfe liefert ein Beitrag aus der Zeitschrift «Du» von 1994 (Nr. 2) – Bachmann setzt sich darin mit dem Thema Kultur und Katastrophe auseinander: «170 Jahre nach dem Tod des Künstlers […] wächst die Geschichte eines Schiffbruchs, die Tragödie der auf dem Floss zusammengedrängten Letzten, in eine Gegenwartsmetapher hinein […]: die dort, das sind wir.» Und zu Fellinis Dampfer in «Amarcord» heisst es, die Rex sei ein mächtiges Bild der Hoffnungslosigkeit: «Der ungeheure Koloss zieht davon wie ein wundervoller Traum.» 

Nicht nur die Umschlaggestaltung, auch der Titel war Gegenstand vieler Reflexionen, wie die Rückseite eines Briefumschlags mit nahezu zwei Dutzend Titel-Varianten zeigt. Besonders aufschlussreich sind folgende: Scirocco – Italienische Kreuzfahrt; Im Wind – Andeutungen über Italien; Piazza della Medusa – Italienische Querfahrt; Die Vorzüge der Halbinsel – Italienisches Logbuch. Die Titelentwürfe enthalten einerseits Begriffe aus der Seefahrt, andererseits solche aus der Wetterkunde. In Kombination mit der Bildsprache verweisen sie auf Katastrophe (Floss der Medusa) und auf das Ausgesetztsein an heftige Strömungen (Scirocco). Das Standbild mit dem hell erleuchteten Dampfer Rex aus «Amarcord» bleibt ohne Titel. Alle Entwürfe mussten jedoch einem Satellitenbild Italiens weichen. Immerhin fanden die Schiffsbilder Eingang in die beiden Umschlagklappen.

Der Essay Vorzüge der Halbinsel berichtet von Bachmanns Lebensstimmung in Italien – erfreut, enttäuscht, begeistert, wütend. Er ist der einzigartige Versuch eines Italienkenners, nüchtern Kritik zu üben an Berlusconi, Bürokratie, Umgang mit Flüchtlingen, Bandenkriminalität etc., ohne die Wunder Italiens aus dem Blick zu verlieren. Die Sympathie für dieses Land lässt sich der Autor auf keinen Fall austreiben! Somit stellt die gewählte Lösung für Cover und Titel – beide dämpfen sowohl die Idee der Katastrophe als auch jene der Hoffnungslosigkeit – eine geglückte Verbindung zwischen Umschlagbild, Titel und Inhalt dar. Weder die Ereignisse auf dem Floss der Medusa noch die an der Welt vorbeiziehende Rex hätten letzteren angemessen repräsentiert. Dass sie in den beiden Umschlagklappen präsent sind, ist allerdings absolut passend.

Dieter Bachmann (geb. 1940) war von 1988 bis 1999 Chefredaktor der Zeitschrift «Du» und von 2000 bis 2003 Direktor des Schweizer Instituts in Rom. Ab 2003 lebte er als freier Schriftstelle in Umbrien. Er setzte sich nicht nur intensiv mit seiner Wahlheimat auseinander, sondern reflektierte in seinem Schaffen vermehrt auch die Schweiz aus der Aussenperspektive. «Die Vorzüge der Halbinsel. Auf der Suche nach Italien» ist im März 2008 erschienen.

Zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Schweizerischen Literaturarchivs und der Universität Basel unter dem Titel «Blick nach Süden. Literarische Italienbilder aus der deutschsprachigen Schweiz» ist ein Forschungsband mit über 20 Essays und Originaltexten erschienen (Chronos-Verlag, 2019).

Letzte Änderung 03.04.2020

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