Der General und sein Historiker

Wie Niklaus Meienberg in einem kleinen Museum zu seinem grossen Thema fand.

Von Margit Gigerl

 
 
 
 
 

Von Januar bis März 1987 präsentierte das noch junge Ortsmuseum Meilen am Zürichsee in einer kleinen, aber umso feineren Ausstellung der Öffentlichkeit Erbstücke der Familie Wille, die bis heute im nahegelegenen Landgut «Mariafeld» ihren Familiensitz hat. «Aus Mariafelds Truhen und Kammern» war von Familienarchivar Jürg Wille kuratiert worden, der gelegentlich auch persönlich durch die Schau führte. 

Der General und sein Historiker
Die Kassette mit dem O-Ton Jürg Willes sowie Meienbergs handschriftliche Notizen und die Publikation im Limmat-Verlag
© Fabian Scherler (NB)

Dies bezeugt eine Tonbandkassette im Nachlass des Journalisten und Schriftstellers Niklaus Meienberg, auf deren Hülle der Vermerk zu finden ist: «5. Febr. 1987 / Ortsmuseum Meilen, General Wille-Ausstellung». Zu hören ist ein gut halbstündiger Rundgang mit Jürg Wille, Enkel Ulrich Willes, des Schweizer Generals im Ersten Weltkrieg, und Sohn von Ulrich Wille junior, Korpskommandant während des Zweiten Weltkriegs.

Einer der Besucher jedoch interessierte sich weniger für die prächtigen Uniformen, Damenroben, Zinnsoldaten, Epauletten und Säbel als vielmehr für das Exponat auf dem Originalstehpult im sogenannten Generalszimmer: ein in Leder gebundenes und zu rein dekorativen Zwecken ausgelegtes Buch mit dem Prägedruck «Briefe des Generals an seine Frau 1914 – 1918». 

Deutschfreundliche Haltung
Dass es sich dabei in der Tat um Fotokopien eines unpublizierten Typoskripts der berühmten «Generalsbriefe» handelte, konnte Niklaus Meienberg, der zufällige Besucher, mit der freundlichen Hilfe der Museumsaufsicht bald feststellen. In dieser Korrespondenz mit seiner Frau Clara, Geborene von Bismarck, enthüllt der schon zu Lebzeiten umstrittene General nicht nur politische und militärische Geheimnisse, sondern auch seine dezidiert deutschfreundliche und antidemokratische Haltung, und das als Befehlshaber der Schweizer Armee zu Kriegszeiten.

Während Meienberg wie besessen exzerpierte, was die ebenfalls im Nachlass überlieferten handschriftlichen Notizen dokumentieren, fotografierte sein Begleiter Roland Gretler so viele Seiten als möglich. Letzterer dürfte auch die Kopie der Tonbandaufnahme erstellt haben, denn der Stempel auf der Tonbandhülle verweist auf das «Bildarchiv & Dokumentation zur Geschichte der Arbeiterbewegung», dessen Begründer der Fotograf Gretler war. Die ganze Geschichte, wie Meienberg an diese bis heute nicht zugänglichen wichtigen historischen Quellen gelangte, lässt sich en detail und mit formvollendeter Ironie in Meienbergs Reportage «Die Welt als Wille & Wahn nachlesen». 

Das umfangreiche Wille-Konvolut im Nachlass demonstriert, dass der Historiker Meienberg ausführliche Recherchen zu den eindrücklich verästelten Verbindungen der Willes zu anderen Notabeln wie den Familien Schwarzenbach, Rieter, von Erlach oder von Weizsäcker anstellte und insbesondere auch die allzu guten Beziehungen Ulrich Willes jun. zu den Nationalsozialisten offenlegte. 

Süffisanter Dank am Ende
Die Publikation dieser Enthüllungen im Frühling 1987 als mehrteilige Serie in der Weltwoche sowie als Buch im Herbst desselben Jahres löste einen regelrechten Hype aus, wie man heute sagen würde. «Die Welt als Wille & Wahn. Elemente zur Naturgeschichte eines Clans» (1987) wurde ein literarisches wie politisches Ereignis und Niklaus Meienbergs erfolgreichstes Buch, das sich mit sieben Auflagen über 20'000-mal verkaufte. Bei aller Polemik ist es ein Klassiker des investigativen Journalismus, dessen Hauptthesen im Wesentlichen bis heute Gültigkeit beanspruchen dürfen. Es wäre «ohne passive Mitwirkung der Fam. Wille nicht zustandegekommen» – so der süffisante Dank Meienbergs am Ende des Buchs. 

Die Museumsführung mit Jürg Wille ist als digitale Tonaufnahme in den Publikumsräumen der Schweizerischen Nationalphonotek sowie der Schweizerischen Nationalbibliothek zugänglich.

Niklaus Meienberg (1940–1993): Der studierte Historiker wurde als sozialkritischer Journalist und Schriftsteller zum Begründer der literarischen Reportage und zu einem der wichtigsten Vertreter der Dokumentarliteratur in der Schweiz. Sein Nachlass kam 1995 ins SLA. Meienberg hätte am 11. Mai seinen 80. Geburtstag feiern können.

Letzte Änderung 15.06.2020

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