Von quakenden und von konzertanten Fröschen

Ein Spielzeug und seine vielfachen Interpretationsmöglichkeiten im Werk von Giovanni Orelli

Von Annetta Ganzoni

Bei einer der letzten Materialübergaben trugen Giovanni Orellis Angehörige dem Schweizerischen Literaturarchiv eine kleine Froschsammlung an. Auf den ersten Blick erstaunten diese Bewohnerinnen der nüchternen Schreibstube des Tessiner Prosaautors, Dichters und Literaturkritikers. Und sie regten die Reflexion an über mögliche Verbindungen zwischen Spielzeugfröschen aus Plastik, Draht und Holz und den Erzählungen und Gedichten des Autors.

Von quakenden und von konzertanten Fröschen
Giovanni Orellis Froschsammlung, die im Schweizerischen Literaturarchiv aufbewahrt ist.
© Simon Schmid, NB

Bereits mit seinen ersten Werken bezieht sich Giovanni Orelli auf ein spezifisches Bestiarium, das sich ihm während der Kindheit im peripheren, bäuerlichen Bergtal Val Bedretto eingeprägt hat. Neben den zu erwartenden Haustieren – den Kühen, den Zicklein und der Katze – tauchen einige wilde Arten auf, und zwar sowohl als konkrete Tiere wie auch als symbolträchtige Sinnbilder. Insbesondere die bescheidene Amphibie Frosch begleitet die Lesenden durch Orellis moralisch und sozial engagierte Prosakapitel und Gedichtstrophen. Sie verknüpft Erinnerungen aus der Kindheit des erzählenden und dichtenden Ich, die realpolitische Tageschronik und einen weitläufigen Kulturdialog aus der abendländischen Literaturtradition. 

«La rana» gehört selbstverständlich zum Grundwortschatz, den die Erstklässler im Bergdorf bereits an Weihnachten schreiben können – auch wenn ihnen das C für «candela» und das S für «stella» noch fehlen. Der Gesamtschullehrer in der kleinen Weihnachtsgeschichte Alfabeto (1998) erzählt mit einem Augenzwinkern, wie er sich in Hinblick auf die Weihnachtsfeier um sein erstes hochstehendes Gedicht mit der beschränkten Anzahl Buchstaben bemüht, eine wahre OuLiPo-Übung – «il mio esordio in Formula 1».

Trotz seinem regelmässigen Bezug zur dörflichen Welt wollte Giovanni Orelli aber keinesfalls ein volkstümlicher Autor sein. Der auf kultureller, sozialer und thematischer Ebene innovative Schriftsteller war vielmehr gesellschaftspolitisch und in allererster Linie kulturpädagogisch ausgerichtet. So zögerte er nicht, seine Gelehrtheit in Form von anspruchsvollen Netzen intertextueller Bezugnahmen in seine Werke einzuflechten, die nur ein belesenes Publikum umfassend verstehen kann. Dies zeigt sich beispielhaft in Orellis erster standardsprachlichen Gedichtsammlung Concertino per rane (1990). Die Kapitelüberschriften des schmalen Bands folgen volkstümlichen Tanzrhythmen, wie der Bourrée und der Sarabanda, die in entsprechend unterschiedlichen Gedichtformen interpretiert werden.

Untereinander verbunden sind die Gedichte durch die Figur des Froschs, mit Verweisen auf ihr literarisches Vorkommen seit Aesops Fabeln, den mittelalterlichen Bestiarien und Dantes Divina commedia bis hin zu persönlichen Erinnerungen der Tierquälerei, die es zu sühnen gilt. Von daher wird der vitale, aber oft als widerwärtig verabscheute Frosch bei Orelli zu einem Symbol für die unschuldig malträtierte Kreatur.

Der im Frühjahr aus dem Sumpf auftauchende Frosch, der die Welt von unten anschaut, musste mit seinem misstönenden Quaken auch als Symbol für die Häresie herhalten. Entsprechend Orellis spielerischer Ironie und Selbstironie steht das Breitmaul mit den hervortretenden Augen in ideologischer Sicht nicht zuletzt als Selbstbild des einem traditionell katholischen Hintergrunds entstammenden Autors, der aus sozialistischer Überzeugung geschrieben und politisiert hat.

Giovanni Orelli (1928–2016), aus dem Bergdorf Bedretto, wurde Gymnasiallehrer in Lugano. In seinem literarisch kreativen Werk realisierte der in mediävistischer und humanistischer Philologie promovierte Autor zeitgemässe Ausdrucksformen in Prosa und Poesie.

Im Dezember 2020 erscheint beim Verlag Interlinea in Novara die Monografie zum vielseitigen Werk: Gioco e impegno dello “scriba”. L’opera di Giovanni Orelli: Nuove ricerche e prospettive, hrsg. von Giovanna Cordibella und Annetta Ganzoni unter Mitarbeit von Alessandro Moro.

Letzte Änderung 16.12.2020

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