Fremdschläfer hier und dort

Im Nachlass von Verena Stefan ist ein Album erhalten, das ihre inneren und äusseren Reisen mit ihrem Spätwerk «Fremdschläfer» verbindet und von ihrer Wahrnehmungund ihrem Engagement zeugt.

Von Irmgard Wirtz

Verena Stefans Album «Fremdschläfer 2005/06» ist ein reichhaltiges Lebensbuch: Der Wechsel zwischen Innen- und Aussenschau unterscheidet es von Tage- oder Reisebüchern oder den geklebten Sammelbüchern. Es besteht aus Notizen, Zeitungsausschnitten, ausgedruckten Mails, Zeichnungen, Postkarten und Fotos, Listen. Es gibt einen Einblick der Lebenseindrücke der Jahre 2005/2006, es ist also kein Werkbuch, obwohl der Titel das vermuten liesse. 

Fremdschläfer hier und dort
Das Album von Verena Stefan zeugt auch von ihrem politischen Engagement.
© Simon Schmid, NB

Es entstand, als Verena Stefan vielleicht schon an den Roman «Fremdschläfer» dachte, der Geschichte des Fremdseins im eigenen Körper nachzuspüren und hierfür eine Sprache zu suchen, was sie seit ihrem Erstling «Häutungen» (1975) faszinierte. Dies erweitert sie in «Fremdschläfer» aber familiengeschichtlich, indem die geborene Bernerin die eigene Situation als Immigrantin in Kanada erfasst wie auch die Immigration des Vaters in die Schweiz Ende des Zweiten Weltkriegs, die sie recherchierte. Dieser preisgekrönte Roman ist ein Zeugnis ihres subtilen Sinns für die Zeichen der Zeit und der Ein- und Ausgrenzung. 

Das Lebensbuch bezeugt mancherlei Erfahrungen auf Reisen, in Freundschaften und auch Versuche, die alte Heimat festzuhalten, wie Fotos vom Münster, den Berner Gassen und dem alten Bärengraben, aber auch der Natur an der Aare und persönliche Begegnungen im Berner Frauenraum. Zarte Liebesbriefe und heftige erotische Träume. Sie zeichnet mit Feder und Wasserfarben Tiere wie Marmotte, Loup de mer und immer wieder den Bären als Wahrzeichen ihrer beiden Lebensstädte Bern und Berlin, dem sie auch in den kanadischen Wäldern begegnet und sei es nur auf Warntafeln.

Als sie ihr Archiv dem Schweizerischen Literaturarchiv anbot, war sie bereits an Krebs erkrankt; eine besondere Vereinbarung nahm auf ihre Lebensumstände Rücksicht und ihr Archiv traf 2007 aus Montreal in ihrer alten Heimat ein. Es folgten nicht viele, aber wichtige Romane: «Fremdschläfer» (2008) und «Die Befragung der Zeit» (2014). Diese beiden Werke ergeben mit «Es ist reich gewesen. Bericht vom Sterben meiner Mutter» eine Familientrilogie, die Mutter, Vater und Grossvater ein Werk widmet und in der Verena Stefan in einer polyphonen Weise ihre Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet. 

Zunächst sammelt sie während einer Schweizerreise im Sommer 2005 zärtliche Mails ihrer Partnerin aus Montreal, sie verzeichnet mit schwarzem Fineliner Eindrücke von Besuchen, Reisen, aber auch Träume, und sie sammelt Belege von Museumsbesuchen (Klee, Giacometti, Einstein) und Zeitungsausschnitte zu Politik und Kultur sowie Hinweise auf Künstlerinnen wie Yoko Ono, Hannah Höch und Autorinnen wie Erica Pedretti und Marie-Claire Blais. Das Albumblatt zeigt ihre beiden Lebensräume: Ausflüge in Montreal nach Prince Edward Island und die Aareschlucht im Berner Oberland. Ihre Welt ist weiblich, ihr Horizont politisch. Sie interessiert sich in den letzten beiden Lebensjahrzehnten für Immigranten, die weder «Reisende noch Gast» sind. Und für die Wandlungen des Asylgesetzes, das Fremde in Zentren unterbringt, sie bei Nichteintretens-Entscheiden aus der Sozialhilfe ausgliedert, ihre Kontrolle vor der Abschiebung verschärft und diejenigen Asylsuchenden als «Fremdschläfer» bezeichnet, die an einem anderen Schlafplatz als dem offiziell zugewiesenen angetroffen werden. 

Verena Stefan wurde 1947 in Bern geboren, übersiedelte nach der Matura nach Berlin, wo sie als Physiotherapeutin praktizierte und Soziologie und Religionswissenschaften studierte. Sie gründete dort eine Frauengruppe und erlebte mit dem Erstling «Häutungen» 1975 einen Durchbruch. Das Kultbuch der deutschsprachigen Frauenbewegung erreichte bis 1980 eine Auflage von 200'000 Exemplaren. Sie lebte in Schleswig-Holstein, auf der Schwäbischen Alb und in München, leitete Schreibwerkstätten und liess sich 2000 in Montreal nieder, wo sie kreatives Schreiben für Immigrantinnen unterrichtete. Ihr Werk verlieh der Frauenbewegung über vierzig Jahre eine literarische Stimme, autobiographische Geschichten, Romane und Lyrik, aber auch Manifeste. Sie verstarb 2017 in Montreal.

Letzte Änderung 20.08.2020

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