Wie kurz vor dem Tod des Nobelpreisträgers Carl Spitteler eine Porträt-Büste entstanden ist.
Von Magnus Wieland
Mit zu den aufregendsten Momenten im Arbeitsalltag eines Archivars zählen sicherlich jene überraschenden Funde, die unerwartet auf Dachböden oder in Kellergewölben auftauchen. Denn was nach dem Motto ‹Aus den Augen, aus dem Sinn› in solche Zwischendepots verbannt wird, rutscht meistens in die Vergessenheit ab – bis es dann eines Tages durch Zufall wieder zum Vorschein kommt. Eine solche Surprise war es auch, als gegen Ende des vergangenen Jahres die Tochter des Luzerner Künstlers Emil Wiederkehr (1898–1963) sich ans Literaturarchiv wandte, weil sie in den Papieren ihres Vaters zwei Briefe Carl Spittelers entdeckt hatte. Den Briefen lagen auch Fotos einer Porträt-Büste bei, die der Künstler vom Schweizer Nationaldichter angefertigt hat und die wenige Monate später bei der Hausräumung dann ebenfalls aufgetaucht ist. Die Sensation war perfekt. Besser hätte der Zeitpunkt kaum gewählt werden können: fast auf den Paukenschlag zum grossen Zentenarium 2019 anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Carl Spitteler.
Bei der Büste handelt es sich um eine Gipsarbeit mit einem bronzefarbenen Anstrich, so dass sie auf den ersten Blick massiver wirkt, als sie eigentlich ist. Die überlebensgross gestaltete Büste zeigt den Nobelpreisträger, wie er mit leicht geöffnetem Mund in eine unbestimmte Ferne sieht. Der Blick wirkt eigentümlich leer, als wäre er schon erloschen. Das ist kein Zufall, wie auch der Wahl von Gips als Material eine symbolische Bedeutung zukommt: Traditionell werden Totenmasken mit Gips abgenommen. Tatsächlich ist Spitteler dem Künstler nur wenige Monate vor seinem Tod noch Modell gesessen – was dieser nicht wissen konnte, aber vielleicht erahnt hatte. Denn als sich der damals noch unbekannte Künstler an den renommierten Dichter wandte, war es durchaus ein Experiment mit offenem Ausgang.
Am 14. September 1924 richtet Wiederkehr an Spitteler seinen länger gehegten Wunsch, «Ihren Kopf zu modellieren». Die Anregung dazu sei vor einigen Jahren entstanden, als er Spitteler zum ersten Mal sah: «Sie machten mir einen tiefen Eindruck und ich dachte und denke es immer stärker, dass sich nach einem solchen Modell eine aussergewöhnliche Arbeit machen liesse». Spittelers Reaktion war zunächst eine abschlägige. Er könne es sich mit seinen «bald achtzig Jahren und [s]einem ewigen Katarrh» nicht erlauben, «die wenigen paar Stunden freier Zeit, die ich mir mit Mühe zwischen meinen Arbeiten erringen kann, preiszugeben und statt in die Sonne zu gehen, im Zimmer still und steif dazusitzen». Er lässt aber am Ende der knappen Nachricht doch einen Hoffnungsschimmer durchblicken, wenn er mit der Frage schliesst, wie lange denn eine Sitzung dauern würde.
Die Ambivalenz der Antwort entgeht Wiederkehr nicht, denn sie versetzt ihn zunächst in eine «zwiespältige Stimmung». Schliesslich unterbreitet er aber den Vorschlag, Spittelers Kopf bei diesem zuhause in nur einer halben Stunde zu skizzieren, «währenddem Sie Korrespondenz erledigen», um nach dieser Vorlage später im Atelier die Büste zu formen. Darauf reagiert der Dichter weiterhin unverbindlich: «Vielleicht, vielleicht! wenn Sie es kurz machen können. Kommen Sie zu mir, vielleicht, daß es Ihnen gelingt mich zu überreden.»
Es gelingt. Ob Spitteler vor seinem Tod die fertige Arbeit noch sah, ist nicht bekannt. Mit der Büste hingegen überliefert ist das hippokratische Antlitz des Dichters, das bereits Richtung Ewigkeit blickt. Die Büste ist Totenmaske und Monument in einem. Dazu passt, dass dem fragilen Material Gips mit der Bronzefarbe quasi ein dauerhafter Anstrich verliehen wurde.
Carl Spitteler (1845–1924) ist bislang der einzige gebürtige Schweizer Dichter, der – 1920 rückwirkend für 1919 – den Nobelpreis für Literatur entgegennehmen durfte. Zahlreiche Jubiläumsaktivitäten lassen das mehrheitlich vergessene Werk wieder aufleben.
Letzte Änderung 05.06.2019