Unbequeme Philosophie im Gerichtssaal

1969 verteidigt der Philosoph Hans Saner den Schriftsteller und Dienstverweigerer Christoph Geiser vor dem Divisionsgericht 10B in Thun.

Von Simon Morgenthaler

 
Hans Saners Dienstbüchlein und Dienstmarke der Schweizer Armee sind Zeugen seiner Widerständigkeit.
Zeugen seiner Widerständigkeit: Hans Saners Dienstbüchlein und Dienstmarke.
© Simon Schmid, NB

Wenn einem beim Stöbern in Hans Saners Materialien sein Dienstbüchlein in die Hände gerät und man sich fragt, warum die Sanftmütigen oft als Füsiliere dienen, wenn man im Schiessbüchlein Indizien für Saners Treffsicherheit sucht, statt in seinen Texten, ist man längst in eine Geschichte eingestiegen, wie sie nur in einem Archiv greifbar wird.

Am 1. Dezember 1969 wurde Christoph Geiser wegen Dienstverweigerung im Schloss Thun der Prozess gemacht. Die Rolle des Privatverteidigers übernahm der Philosoph Hans Saner. Dieser stellte dem Gericht die Frage, ob Politik etwas mit dem Gewissen zu tun habe und insistierte auf einer politischen Begründung der Verweigerung. Die Tatsache, dass die totale Zerstörung der Menschheit durch Massenvernichtungswaffen möglich sei, lasse – so Saner – nur die Folgerung zu: «Es darf kein Krieg mehr sein!» Aus Einsicht der politischen Vernunft bedeute dies, «den Krieg, seine Werkzeuge und Ursachen radikal zu verwerfen», also auch die Armee.

Das Gericht folgte Saners Argumentation und anerkannte Geisers Begründung als einer religiösen gleichwertig und somit als strafmildernd. Der Auditor meldete Kassation an. Es sollte kein Präzedenzfall geschaffen werden. Auch die Rede von einer «Allesfresserdemokratie» in Geisers eigener Verweigerungserklärung ist ihm im Hals stecken geblieben. Das Gericht gab dem Auditor schliesslich Recht und verurteilte Geiser zu vier Monaten Gefängnis statt Haft. Auch Saners Frage war beantwortet: Das Gericht bekenne sich, wie er schrieb, aus politischen Gründen dazu, «dass Politik mit dem Gewissen nichts zu tun hat», und liefere damit auch das Bekenntnis, «dass dieses politische Urteil gewissenlos» sei.

Saner hat an seinem Plädoyer gefeilt. Die verschiedenen Fassungen, die im Archiv zu finden sind, machen deutlich, dass darin ein grundsätzlicher Anspruch an die Philosophie formuliert wurde. Das Ziel war eine klare und verständliche Diskussion eines juristischen (und eben politischen) Tatbestands mit philosophischen Mitteln. Saner rüttelte damit an den Fundamenten eines demokratischen Systems, das sich seiner Grundsätze allzu sicher ist. Und er tat dies als überzeugter Verfechter der Demokratie.

Noch bevor Geiser im August 1970 seine Strafe antrat, reichte Saner mit ihm zusammen eine Petition zur Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit ein. Es war die demokratische Reaktion auf eine Militärjustiz, die ihre Eigenmächtigkeit auf Schloss Thun selbst ad absurdum geführt hatte.

Geiser stellte in Haft seinen zweiten Lyrik-Band Mitteilung an Mitgefangene (1971) fertig. Die Sprache wurde ihm zum Refugium des Widerstands. Saner wiederum publizierte und referierte unermüdlich weiter zu gesellschaftspolitischen Themen. Er betrieb eine Philosophie der kleinen Formen, die insofern demokratisch war, als Saner lebensnah und verständlich argumentierte und sich dezidiert auch an Laien wandte. Dass Vertreter der akademischen Philosophie darüber die Nase rümpften, war für Saner wohl eher Bestätigung als Kränkung.

Die militärische Dienstmarke aus Saners Archiv wird am Ende also zum Zeugen seiner unablässigen Widerständigkeit. Sie ist nur einer der «Grabsteine» des 2017 verstorbenen Philosophen und als solcher eine Aufforderung, sich auch heute den scheinbar einfachen Fragen auszuliefern, die er zeitlebens gestellt hat.

 
 
 

Hans Saner (1934–2017) war Philosoph, Publizist und Hochschullehrer. Er war persönlicher Assistent von Karl Jaspers in Basel und verwaltete später dessen Nachlass. Saner veröffentlichte über 15 Bücher. Sein umfangreiches Archiv mit über 500 Schachteln ist seit 2014 Bestand des SLA und wurde 2018 zugänglich gemacht.

 

Letzte Änderung 31.01.2019

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