Der Zwerg in der Archivschachtel

Mit dem Gärtnern hatte er es zwar nicht so, aber trotzdem besass der Bündner Schriftsteller Flurin Spescha einen Gartenzwerg – den er literarisch verewigte.

Von Annetta Ganzoni

 
 
 

Die Krimskrams-Objekte, die vom Schreibtisch des Schriftstellers Flurin Spescha nach seinem frühen Tod in die Metallschachtel für elegante schottische Damenschuhe gelangten, erzählen so manche Geschichte: von der Anziehungskraft historischen Bürozubehörs beispielsweise oder vom grossem Engagement für die Dis da litteratura, die Spescha 1990 mitbegründet und über ein Jahrzehnt hinweg akribisch dokumentiert hat.

Lesender Gartenzwerg auf dem Rand einer Archivschachtel, daneben sind weitere Schreibtisch-Objekte zu sehen: eine runde Sonnenbrille, farbige Pins und ein alter Locher.
Flurin Speschas lesender Schreibtischkompagnon
© NB, Simon Schmid, 2018

Wie Spescha auf die in der «Nanologie» als Vorlese-Zwerg bekannte Terrakotta-Figur gestossen sein könnte, ist leider nicht überliefert. Dass er vom Lesen und Schreiben weit mehr fasziniert war als von den Gärtneraktivitäten, die ihm als Kind abverlangt wurden, lässt sich unschwer aus einigen Texten seines biografisch gefärbten Werks ableiten. Der erstaunlich saubere Protagonist aus dem Nachlass scheint zwar keine Gartenerfahrung zu haben, dafür aber illustre literarische Verwandte.

«Phantasien eines Gartenzwergs» betitelte Spescha in seinen Vorarbeiten eine der für den Band Der zwölfte Tag danach vorgesehenen Erzählungen, der 1998 im Pendo Verlag rechtzeitig für den Schweizer Auftritt als Gastland an der Frankfurter Buchmesse erschien. Erhalten sind Notizen der Terminplanung zur Fertigstellung dieses Bandes von Anfang Dezember bis zum Abgabetermin im März. «Wie schaffe ich es, Kurzgeschichten ohne Vorgabe, d. h. ohne (konkreten) Auftrag einer Zeitung o. ä. zu schreiben? […] Nur, kommt der Kick, der notwendige Impuls, wenn der Auftrag nicht unmittelbar an den tagesjournalistischen Produktionsablauf gebunden ist?», fragt sich der vielseitige Autor, Redaktor, Übersetzer und Öffentlichkeitsbeauftragte des Zürcher Stadtpräsidenten.

Denn die Erzählungen waren bei weitem nicht Speschas einzige Beschäftigung in diesem befrachteten 1998: Als Mitredaktor der rätoromanischen Zeitschrift Litteratura war er bei der Produktion der aufwendigen zweisprachigen Ausgabe 22 beteiligt. Ebenfalls wurde die von Pro Helvetia in Auftrag gegebene kleinen Anthologie der Gegenwartsliteratur Binnenwelten. Stimmen aus der Schweiz aufgegleist, und hier erschien schliesslich auch Speschas Gartenzwerg-Geschichte. Speschas Qualitäten werden im Vorwort umschrieben: «Ein abgründiger Humor, der seinesgleichen sucht, und die unter der Oberfläche der Texte lauernde Ironie zeichnen seine Texte aus.»

Der letzte Garten ist ganz aus der Perspektive des Gartenzwergs Heiri erzählt. In Anlehnung an die einschlägige Literatur, insbesondere an Zipfel auf! Alles über Gartenzwerge von Fritz Friedmann (1994), das «rein wissenschafliche Lehr- und Lesebuch», zieht Spescha für den parabelhaften Lebenslauf Heiris die Kulturgeschichte des «echten, beseelten Gartenzwergs» heran. Denn Gartenzwerge leben gefährlich: So wurde der einst französischsprachige Lese-Zwerg von der «Front zur Befreiung der Gartenzwerge» aus seinem paradiesischen Garten in Südfrankreich in einem unwirtlichen Wald ausgesetzt und kam dann in eine fremde und dekadente Umgebung zu stehen, wo seine Kollegen an legendären Krankheiten wie Rotzipfelknie, Gartenhalskehre und Handkarrenschulter eingehen. Und so hat Heiri zwar sein Buch verloren, nicht aber seinen freundlich-friedlichen Gesichtsausdruck.

In Domat/Ems aufgewachsen, studierte Flurin Spescha (1958–2000) in Zürich Romanistik und Literaturkritik und publizierte ab 1981 auf Rätoromanisch und Deutsch.

Letzte Änderung 25.09.2019

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