Lovay und sein Antipoden-Journal

Auf seiner Lesereise durch Australien hat der Walliser Schriftsteller Jean-Marc Lovay ein Reisetagebuch in Form eines illustrierten Heftes mit eingestreuten überraschenden poetischen Splittern geschaffen.

Von Fabien Dubosson

 
 

1983 stellt Jean-Marc Lovay schalkhaft fest, in Saudiarabien habe er endlich seine zweifelhafte Zugehörigkeit zur französischsprachigen Schweizer Literatur begriffen – nur um kurz darauf zu präzisieren, er sei gar nie in Arabien gewesen. Ein Jahr später reist er nach Australien, von verschiedenen Universitäten und Literaturfestivals als «Schweizer Schriftsteller» eingeladen. Aber auch dort erhebt er nicht den Anspruch, die dornige Frage nach der Identität einer «Schweizer Literatur» zu lösen, noch will er als Repräsentant seines Landes posieren.

In Tat und Wahrheit fühlt sich der Autor des Romans Les Régions céréalières (Die Getreideanbauregionen) sehr wohl in der sprachlichen und geographischen Versetzung in Australien bei den «Antipoden»: Sie erlaubt ihm, aus seiner offiziellen Lesetour eine heimliche Traumreise zu machen.

 
Reisetagebuch von Jean-Marc Lovay (Australien, 1984).
Reisetagebuch von Jean-Marc Lovay (Australien, 1984).
© Simon Schmid, NB

Die australische Lesereise unter dem Patronat von Pro Helvetia fängt ganz offiziell an. Im Februar und März 1984 bereist der Autor das Land von Norden nach Süden, von Melbourne bis Cairns. Um eine Erinnerungsspur zu bewahren, führt er ein bis heute unpubliziertes Reisejournal, in das er zahlreiche Dokumente heftet und einklebt, wodurch sich ein sehr konkretes, patchwork-artiges Bild von der Reise ergibt: Quittungen, Visitenkarten, Programme, Flug- und Busbillette, Reiseprospekte. Sogar das gargantueske Menü des Interkontinentalflugs mit der Fluglinie Quantas findet sich darin. Vor allem aber notiert er in seinem Heft die Begegnungen, die grossen und kleinen Ereignisse, die seine Tage prägen. So macht er in Sidney die Bekanntschaft von Max Walkley, jenem Professor, der dort einen Lehrstuhl für Literatur der Romandie begründet hat – den zu jener Zeit einzigen ausserhalb der Schweiz. Er nimmt in Adelaide am Literaturfestival teil, bei dem auch Salman Rushdie anwesend ist. Doch das Journal präsentiert auch merkwürdige, durch Publikumsdiskussionen hervorgerufene Erinnerungen, wie jene an das kleine Walliser Dorf Pinsec, wo Lovay seine ersten Erzählungen geschrieben hat: «Schwindelerregend, diese Auferstehung von Bildern.»

Die Grenze zwischen Traum und Realität scheint schmal in diesem Heft. Man findet darin Traumerzählungen, aber auch kurze Aufzeichnungen zur fast surrealen Inkongruenz der australischen Natur, die durchaus einer Erzählung von Lovay würdig wäre. Der Autor staunt beispielsweise über Riesenfarne, über «Raben-Ziegen auf den Bäumen», die «kichern», wie wenn man in ein «enormes Steak» beisst; über «bucklige Kühe in der Nacht» und das immer überraschende Erscheinen von Känguruhs: «Zwei Känguruhs richten sich hinter den feinen Gräsern auf. Sie hüpfen davon mit ihren Sprüngen, die wie jedes Mal neu erfunden wirken.» Der Wombat gleicht «einem dicken Murmeltier». Ein Koala, in seinem Schlaf gestört, beschliesst, den Baum zu wechseln, und regt den Autor zu folgendem Haiku-Fragment an: «Langsamkeit und Fortsetzung des Traums.» Merkwürdige Zufälle beleben einen nur scheinbar banalen Alltag: «Gestern steigt Sylvie über eine Mauer und berührt dabei die Koalas. Ein Papagei greift mein Wörterbuch an.» Auch die Menschen sind Gegenstand merkwürdiger Metamorphosen, vor allem, wenn sie aus dem Norden kommen: «Die Schweden an der Bar sind wie Nachtvögel mitten am Tag.»

Manchmal widmet sich Lovay kurzen Gedichten, vor allem angeregt durch die langen Busreisen: «Das Leben ist ein Autobus-Ticket / Schnell gekauft, schnell gereist».

In diesem mit Handfertigkeit hergestellten Heft, in dem poetische Splitter mitten in einer scheinbar prosaischen Wirklichkeit aufblitzen, ist Australien präsent als Kontinent in a nutshell.

 

Jean-Marc Lovay, geboren 1948 in Sion, hat seine ersten Romane (darunter Les Régions céréalières und Polenta) bei Gallimard in Paris publiziert, seine späteren Werke erschienen bei den Editions Zoé in Genf. Lovay sagt, er schreibe seit je an einem einzigen grossen Buch, aus dem sich in regelmässigen Abständen ein Fragment löse – ein Roman, eine Erzählung, ein kurzer Prosatext.

 

Letzte Änderung 27.06.2019

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