Leidenschaftliche Literaturkritik

Die grosse Schweizer Literaturkritikerin Elsbeth Pulver war eine Förderin und Freundin der Literatur. Mit Gerhard Meier verband sie eine spezielle Beziehung.

Von Lukas Gloor

 
Das Manuskript «Land der Winde» von Gerhard Meier und die Schachtel mit der Widmung für Elsbeth Pulver.
Die Schachtel mit dem Manuskript «Land der Winde» von Gerhard Meier, die er Elsbeth Pulver schenkte.
© Simon Schmid, NB

Eine Schachtel mit einem Stapel handbeschriebener Seiten kann die Herzen von Literaturliebhabern höherschlagen lassen. Eine solche Schachtel befand sich im Nachlass der Grande Dame der Schweizer Literaturkritik, Elsbeth Pulver, die für ihre sprachmächtigen und einfühlsamen Kritiken bekannt war. Es handelt sich um das Manuskript und die Maschinen-Abschrift des Romans «Land der Winde», des letzten Teils der Tetralogie «Baur und Bindschädler» von Gerhard Meier.

Auf der Schachtel – die gemäss Beschriftung eosinrote A4-Umschläge der Mühlebach AG, heutige Antalis, enthielt – ist ein Deckblatt aufgeklebt: Das Wort «Sudel» hat Meier umrahmt. Zeigt dies die Bescheidenheit Meiers an, so wirft die Widmung «Für Elsbeth Pulver, herzlich Gerhard Meier» ein Schlaglicht auf die Beziehung der beiden. Gerhard Meier war insbesondere gegen Ende seiner Schaffenszeit ein hochgeschätzter Autor. Die Anerkennung, die ihm vom Literaturbetrieb entgegengebracht wurde, war offenkundig. Wenn er nun im Januar 1990 das Manuskript Elsbeth Pulver schenkte, so bedeutet dies umso mehr.

Im Nachlass der Literaturkritikerin, der seit 2017 vollständig im Schweizerischen Literaturarchiv aufbewahrt wird, finden sich rund 130 Briefe von Gerhard Meier. Sie reichen von 1969, als Meiers drittes eigenständiges Buch «Kübelpalmen träumen von Oasen» erschien, bis zum Januar 2008, wenige Monate vor seinem Tod im Juni. Das ist eine sehr bemerkenswerte Konstanz. Die elf Jahre jüngere Elsbeth Pulver war nicht nur eine Förderin und begeisterte Leserin Meiers, sondern eine sein ganzes Schreiberleben begleitende Freundin.

Sie war eine leidenschaftliche Literaturkritikerin. Eine Grenze zwischen Leben und ihrer Arbeit, der Literatur, schien sie nie anzustreben. Dies zeigte sich auch an der Ordnung des Nachlasses. Ihre Entwürfe, Typoskripte mit handschriftlichen Änderungen und Manuskripte waren durcheinander gelagert. Die Belege ihrer unzähligen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sowie die grossen wissenschaftlichen Arbeiten hob sie nicht gesondert auf, sondern vermischt mit Artikeln von Kollegen. Im Universum ihrer literarischen Arbeit gehörte alles zusammen: die eigenen und die Arbeiten anderer, die Entwürfe und die Reinschriften, die Belegexemplare und Druckfahnen, Wissenschaft, Literaturkritik, Literaturförderung und besonders die Freundschaft mit Autorinnen und Autoren, unter ihnen Maja Beutler, Klaus Merz, Matthias Zschokke, Margrit Baur, Kurt Marti und Jörg Steiner.

Zu Gerhard Meier publizierte Elsbeth Pulver mindestens sechs umfangreiche Texte. Zu seinem Tod 2008 schrieb sie auch einen Nachruf. Zwei Arbeitsfassungen davon finden sich in ihrem Nachlass, wobei die zweite Fassung nicht mehr mit dem zeitnahen und würdigenden Titel «Nachruf auf Gerhard Meier» überschrieben ist, sondern mit dem persönlicheren «Abschied von Gerhard Meier». Die zwei Typoskripte des Artikels machen die Arbeitsweise der Literaturkritikerin deutlich. Die zahllosen handschriftlichen Bearbeitungen, Streichungen und Einschübe sowie die grosse Varianz der Fassungen zeigen, wie verwandt Elsbeth Pulvers Schreiben über Literatur, ihr Feilen am richtigen Ton und der präzisen Benennung dessen, was zu sagen war, der Literatur selbst war.

 

Elsbeth Pulver (1928–2017) war eine der besten Kennerinnen der Schweizer Literaturlandschaft. Die promovierte Germanistin wirkte in zahlreichen Kommissionen und Jurys mit und arbeitete als freie Literaturkritikerin. Aufgewachsen in Zweisimmen, verbrachte sie den Grossteil ihres Lebens in Bern.

 

Letzte Änderung 25.03.2019

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