«Das Schweigen brechen»

Zwanzig Jahre lang hat der Waadtländer Autor Olivier Beetschen die literarische Zeitschrift «La Revue de Belles-Lettres» geleitet – und sich dabei gefragt, welche Aufgabe die Poesie erfüllen soll.

Von Vincent Yersin

 
 
 

Erstmals 1864 erschienen, ist die «Revue de Belles-Lettres» eine der ältesten literarischen Zeitschriften der Welt – und sicherlich die älteste der Schweiz. Punkto zeitgenössischer Poesie ist die Publikation massgebend für den frankofonen Raum. Während zwanzig Jahren war Olivier Beetschen Herausgeber dieser prestigeträchtigen Zeitschrift. Zunächst zehn Jahre lang als Sekretär tätig, übernimmt er 1989 die Redaktion. Wie seine Vorgänger um eine verstärkte Berücksichtigung anderer Sprachen und Kulturen bemüht, eröffnet er die erste von ihm entworfene Ausgabe mit der Übersetzung eines bengalischen Poeten des 12. Jahrhunderts. Über diesen schreibt er: «Sein Gesang hilft uns, die Zeichen unter unseren Fingern zu entziffern und vielleicht die Mauer der Dunkelheit einzureissen, die uns trennt von unserem Impuls, von diesen mysteriösen Gründen, die uns beharrlich in der Poesie ein Mittel suchen lassen, um das Schweigen zu brechen.»

 
Das Schweigen brechen
Blätter, welche die Arbeit an der Zeitschrift dokumentieren, und Notizen auf einem Tischtuch-Fetzen.
© Simon Schmid, NB

Von Anfang an hinterfragt Beetschen also, welche Aufgaben eine literarische Zeitschrift und mehr noch die Poesie zu erfüllen haben. Und auch zwanzig Jahre später, nach der letzten von ihm betreuten Ausgabe («Fin et suite»), an der sich unter anderen Pierre Chappuis, Jacques Réda, Michel Butor, Yves Bonnefoy und Jean-Marc Lovay beteiligen, stellt er sich immer noch diese Frage, in einer Ansprache, die er nicht selbst halten konnte, da ihn ein Stimmverlust zum Schweigen zwang: «Was ist eine Zeitschrift? In erster Linie setzt eine Zeitschrift voraus, dass sich die Redakteure wirklich treffen, physisch, materiell. Das Redaktionsteam kommt in einem echten Bistro zusammen, isst gemeinsam und bestimmt dann eine redaktionelle Linie, legt Inhaltsverzeichnisse fest, entwirft Sonderausgaben, und all dies mit der Müdigkeit des Alltags in den Gliedern, familiären Sorgen auf der Stirn …» Wer schon einmal bei solchen Projekten mitgearbeitet hat, kann ihm nur zustimmen. Und Beetschen fährt fort: «… alles ist da. Die berühmte Isolation des Autors ist aufgebrochen. Das ‹echte Leben›, wie man es manchmal merkwürdigerweise nennt, bricht in den literarischen Diskurs ein. Man spürt den anderen, seine Zerbrechlichkeit, seine Erwartungen, seine Kräfte.»

Eine Zeitschrift ist also kollektiv, ein Vielfaches; und die im Schweizerischen Literaturarchiv aufbewahrten Dokumente zeichnen dies nach. Eine wichtige, dem Schriftsteller Yves Velan gewidmete Ausgabe der «Revue de Belles-Lettres», «La machine Velan» (1992), führt ein einzigartiges Modell ein, um mit den Konventionen der Festschrift zu brechen: eine offene Briefdiskussion unter mehreren Teilnehmern, «von der Art eines Netzwerks, das vom Zentrum aus wild in alle Richtungen auswuchert». Laut Pierre-Alain Tâche bildet diese Ausgabe «eine der seltenen kollektiven Literaturunternehmungen des letzten halben Jahrhunderts». In seiner Einleitung streicht Beetschen «eine gemeinsame Praxis» heraus, «die dem hartnäckigen Märchen widerspricht, das Schreiben sei ein Vergnügen, das man nicht teilen könne», besonders «in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft unter dem Banner des Individualismus einzureihen scheint».

Als Poet der konkreten Existenz und äusserst origineller Romancier folgt Beetschen einer Literaturkonzeption, die er nur beiläufig theoretisiert hat, in einigen Zeilen, die den Leser zum Kern einer Zeitschriftennummer hinführen, oder im Rahmen eines Interviews: «Die Poesie ist für mich ein Alltagsschreiben, ich gehe aus, erfahre Schocks, reagiere darauf. Das gehört zum Leben.»  

 

Olivier Beetschen (geb. 1950). Gegenwärtig gehört Beetschen der Verlagsdirektion der Éditions Empreintes an, sein jüngstes Buch, der Krimi «L’oracle des loups», ist 2019 in den Éditions de L’Âge d’Homme erschienen. 2017schenkte der Poet und Romancier dem Schweizerischen Literaturarchiv sein Archiv.

 

Letzte Änderung 25.08.2019

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