Botanik und Poetik

Das Herbarium der Schriftstellerin Helen Meier, das sich im Schweizerischen Literaturarchiv befindet, gibt auch Aufschluss über ihre Schreibweise.

Von Sophie Stäger

 
 
Das Herbar, das die 18-jährige Helen Meier 1947 am Lehrerseminar anfertigte, ist grösstenteils von Hand gezeichnet.
Das Herbar, das die 18-jährige Helen Meier 1947 am Lehrerseminar anfertigte.
© Foto: Simon Schmid (NB)

Vermutlich finden sich noch in einigen Schweizer Stuben Herbarien, die als Kind in der Schule angefertigt wurden: in die Natur gehen, Pflanzen sammeln, trocknen, pressen, einkleben. Ein solches Pflanzenbuch findet sich auch im Archiv der Schriftstellerin Helen Meier.

Auf dem übergrossen Heft, das mit einem schlichten bräunlichen Umschlag umgeben ist, steht rot umrandet «Botanische Arbeit»; auf der ersten Seite ist in kleinen Lettern «1947» ergänzt. Bis auf wenige getrocknete und gepresste Pflanzen, die dem Heft lose beigelegt wurden, unterscheidet sich Helen Meiers Herbarium dadurch von einer klassischen Arbeit, dass es vollständig gezeichnet wurde und die Flora eines Landstücks nahe Mels (SG) erschliesst. Von den klimatischen Voraussetzungen über die Bodenbeschaffenheit bis zum Hauptteil der Pflanzenbeschreibungen gibt die gut 50 Seiten lange Dokumentation detailliert Einblick in das Ökosystem dieser Landschaft.

Dass sich ein solches Zeugnis im Archiv der 1929 geborenen Schriftstellerin Helen Meier befindet, erstaunt nicht; dass sich die «Botanische Arbeit» aber in demselben Schrank befindet, wie die Manuskripte der Dichterin, lässt einen hingegen kurz stutzen. Doch wer das Heft öffnet und in die Welt der Botanik eintaucht, merkt rasch, dass hier Naturwissenschaft und Kunst verschmelzen und dass dieses Heft in mehr als einer Weise mit dem Schaffen Helen Meiers in Verbindung steht.

1946 beginnt die Autorin eine vierjährige Ausbildung am Lehrerseminar Rorschach. Dort, so ist zu vermuten, ist auch dieses Herbarium entstanden. Obwohl Lehrerin nicht eben ihr Wunschberuf war, sondern ein «Zwang der Familienkonstellation, der damaligen Möglichkeiten», übte sie ihn bis zu ihrer frühzeitigen Pensionierung 1987 aus.

Die Erfahrungen des Schulalltags gehen in ihr Schreiben über, wie ihr Debüttext «Lichtempfindlich» zeigt, für den die damals 55-jährige Newcomerin 1984 das Ernst-Willner-Stipendium erhielt, eine von der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises verliehene Auszeichnung, die heute ebenfalls im Schweizerischen Literaturarchiv liegt. Im selben Jahr erschien dieser Text in Helen Meiers erstem Erzählband «Trockenwiese». Mit klaren, kurzen Sätzen erzählt die Autorin darin von der Beziehung eines geistig beeinträchtigten Jungen zu seiner Lehrerin. Die Erzählung vermittelt dem Leser nicht nur eine tiefe Sympathie für die Hauptfigur, die so natürlich-direkt handelt, ohne ihr Verhalten zu reflektieren. Sie tut dies fast gänzlich, ohne deren Innenleben zu erklären – ähnlich jenen Pflanzenbeschreibungen, die fein säuberlich die detailgetreuen Bilder der «Botanischen Arbeit» ergänzen.

Im Herbar ist jeder Stempel und jede Blüte illustriert, die Blätter unterscheiden sich deutlich voneinander und die Stängel werden der Natur getreu abgebildet. Durch das Leuchten des Gelbwegerichs, das Meerblau des Lungen-Enzians sind deutlich die Konturen der Vorzeichnung zu erkennen. Unweigerlich muss man an Helen Meiers Poetik denken, die eine eigentümliche Mischung aus bildreicher Beschreibung und radikal-faktischer Beobachtung ist und zu diesem bestimmten Meierschen Ton führt. Im Gegensatz zur Biologie schafft die Autorin mit dem beschreibenden Gestus jedoch Nähe und Identifikation mit den Figuren, ihren Dilemmata und ihren Eigenarten. Oder wie ein Kritiker einmal feststellte: «Helen Meier erzählt, sie erklärt nichts».

 

Die Schriftstellerin Helen Meier (*1929), die im appenzellischen Trogen lebt, feiert am 17. April ihren 90. Geburtstag. Ihr Archiv ist seit 2018 Bestand des SLA.

 

Letzte Änderung 24.04.2019

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