Dreissig Jahre Wanderschaft

Die 83 Tagebücher des Schriftstellers, Puppenspielers, Regisseurs und Malers Jakob Flach erlauben eindrückliche Einblicke in das Leben und Wirken des Wandervogels.

Von Manuela Bättig

Dreissig Jahre Wanderschaft
Eine Auswahl der insgesamt 83 bunt illustrierten Tagebücher von Jakob Flach.
© NB, Fabian Scherler

«Dies Buch tut euch gar viel verzellen, / Von einem lustigen Gesellen, / Von seinem Wandern weit umher, / Drum’s Fahrtenbuch benamset wär. / […] Sei’s eine Fahrt im Mondenschein, / Mit Freunden oder auch allein. […] / Vom Wandern um die Morgenstund / Das alles tut das Buch hier kund.»

So beginnt der siebzehnjährige Jakob Flach sein erstes von insgesamt 83 Tagebüchern, die er vom 25. Juni 1910 bis am 1. Januar 1940 führte und die allesamt in seinem Nachlass zu finden sind. Wie er dies im ersten «Fahrtenbuch» ankündigt, hält der «lustige Geselle» darin seine bei ausgedehnten Wanderungen und Reisen auf der ganzen Welt gesammelten Erfahrungen und Eindrücke fest. Flach schreibt, «was er denkt, träumt und tut», und bebildert seine täglichen Erlebnisse mit kunstvollen Zeichnungen und selten auch Fotos. In späteren Tagebüchern sind überdies Briefabschriften und Textskizzen zu finden.

Stoff zum Berichten hatte er genug: Flach schloss sich früh den «lustgen Wandervögeln» an und fand in der Wandervogel-Bewegung einen Gegenentwurf zu der ihm vorgelebten bürgerlichen Lebensführung. Fortan trieb den freiheitsliebenden, «verbummelten Studenten» die Wander- und Reiselust. Allein am Ende seines ersten Tagebuchs im August 1912 fasste er 42 «Wandervogeltouren» zusammen, während deren «alle Kantone ausser: Appenzell, Genf u. Tessin» sowie «das Ausland in 2 Touren» bewandert wurden. 

Bei diesen beiden sollte es allerdings keineswegs bleiben. In den Tagebüchern der 1920er- und 1930er-Jahre berichtete er über seine zahlreichen Reisen in ganz Europa, Afrika und dem Nahen Osten. Seine Aufzeichnungen fallen manchmal sehr sorgfältig, oft jedoch flüchtig aus. Letzteres legt nahe, dass Flach seine Tagebücher bei sich getragen und seine Erlebnisse und Gedanken unmittelbar während des Reisens festgehalten hat. Dabei setzte er sich intensiv mit seiner Umgebung, aber auch mit sich selbst auseinander. Die vielen Selbstporträts und Zeichnungen von Bauwerken und Städten, die er als Fotoersatz anfertigte, zeugen davon.

Immer wieder zog es Jakob Flach auch ins Tessin. Bereits im Februar 1917 schwärmte er von einem Ausflug nach Ascona und an den Lago Maggiore: «Ascona. Das Städtchen, südlich, farbig, voll Sonne – und die Strassen voll Schnee. […] Dann sassen wir am See und sahen über die weiten Wasser, Ringe kreisten […] und die Sonne malte Gold und rings die weissen Berge […]. Juhu! Fein wars, schön.» Musste er das Tessin hingegen wieder verlassen, wurden ihm «die Augen nass», wie er am 17. Januar 1919 im Gedicht «Abschied vom Tessin» schmerzlich beschreibt.

Der seit 1925 definitiv ins Tessin übersiedelte Flach hielt am 1. Januar 1937 in seinem 83. und somit letzten Tagebuch die «Verhandlungen und Gründung des Marionettentheaters asconeser Künstler» fest, das am 10. Juli desselben Jahres eröffnet und durch Flachs leidenschaftliches Engagement bald sehr erfolgreich und international bekannt wurde.

Das Marionettentheater wird er noch bis 1961 betreiben. Seine Tagebuchaufzeichnungen hingegen enden am 1. Januar 1940. Der Krieg ist ausgebrochen, «man kann nicht mehr reisen, vieles ist rationiert – nur das Papier noch nicht!!!» Trotzdem bricht Flach hier seine Aufzeichnungen ab. Nach knapp dreissig Jahren Wanderschaft erzwingt der Krieg das Ende seiner Reiselust. Was bleibt, ist der eindrückliche Einblick in dreissig Jahre Leben und Wirken eines Lebenskünstlers, Weltenbummlers, Schriftstellers und Puppenspielers – um nur die wichtigsten von Flachs Eigenschaften zu erwähnen.

Jakob Flach, geboren 1894 in Winterthur und 1982 in Locarno gestorben, war Schriftsteller, Puppenspieler, Regisseur und Maler. Sein Nachlass kam 1993 als Schenkung ins Schweizerische Literaturarchiv.

Dreissig Jahre Wanderschaft (PDF, 527 kB, 14.11.2018)Der Bund, Dienstag, 13. November 2018

Am 14. November, 18 Uhr, wird im Rahmen der Vernissage zum Quarto Nr. 45, «Lago Maggiore – literarische Topografie eines Sees», u.a. Michael Wiederstein, dessen Beitrag zu Jakob Flach im Heft zu lesen ist, als Gast anwesend sein.

Vom 14. bis 23. November werden in einer Kabinett-Ausstellung zum Thema des Heftes auch einzelne Dokumente aus Flachs Nachlass zu sehen sein, so zum Beispiel das Tagebuch Nr. 71 aus dem Jahr 1929.

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Letzte Änderung 14.11.2018

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