Im Jahr 1972 wirbelte Jean Bollacks Studie La Lettre d’Epicure in der klassischen Philologie viel Staub auf. Unterstützung fand er beim Soziologen Pierre Bourdieu.
Von Stéphanie Cudré-Mauroux
Es gibt Gespräche, deren Zeuge man gerne gewesen wäre. Um den Dialog zwischen den Wissenschaftlern Jean Bollack und Pierre Bourdieu zu belauschen, hätte man in einem Bahnwagen auf der Fahrt zwischen Paris und Lille sitzen müssen, wo ihr erster Austausch stattfand. Regelmässig machten sie diese zweieinhalbstündige Reise, Pierre Bourdieu als Maître de conférence für Soziologie in Lille von 1961 bis 1963, Jean Bollack als Lehrbeauftragter für griechische Literatur und Philosophie seit 1958.
Diese Fahrten förderten das Gespräch und die Freundschaft, intensiv und einvernehmlich tauschten sie sich aus über die Lehrtätigkeit und über die sozialen Prägungen der Studenten und Professoren. Jean Bollack unterstützte Bourdieu, als dieser zwischen 1961 und 1963 seine ersten grossen Untersuchungen über die Studierenden machte. Und Bourdieu seinerseits nahm Bollacks Empedokles-Ausgabe und seine Epikur-Studie als Herausgeber bei den Editions de Minuit auf.
Das Buch La lettre d’Epicure, mittlerweile ein Klassiker der Gräzistik, wurde bei seinem Erscheinen 1972 von gewissen Professoren der alten Garde nicht nur als übergriffig, sondern auch als respektlos gegenüber der Tradition der Altphilologie empfunden. Ein Streit zwischen den Alten und Neuen, gepaart mit Nach-1968-er-Slogans, der die Altphilologie in ihren Grundfesten erschütterte.
Im Herbst 1972 eröffnet Pierre Boyancé die Polemik und publiziert in der Revue de philologie einen Angriff auf Bollack. Auf der Gegenseite organisieren sich Verteidigung und Gegenangriff: Bollack antwortet in einem langen Gespräch in der Zeitung Le Monde (14.12.1972) und mit einer Publikation, dem 37-seitigen Lettre à un président, die ebenfalls bei den Editions de Minuit erscheint. Der Streit setzt sich in L’Express und anderen Zeitschriften fort.
Im Nachlass von Jean Bollack im Schweizerischen Literaturarchiv sind bisher noch unbekannte Briefe mit Ermutigungen von Pierre Bourdieu aufgetaucht: «Ich bin überzeugt, dass sie etwas Gutes tun mit der Publikation dieses Textes. Zögern Sie nicht. Er ist sehr schön und sehr gut», schreibt Bourdieu am 6. November 1972, nachdem er das Manuskript von Lettre à un président gelesen hat. Darüber hinaus kommentiert er den Angriff von Boyancé und prangert in einer scharfen Textanalyse die «Marker von Pseudo-Autorität» an, wie: «es ist natürlich», «es ist klar», «entgegen der Evidenz», «allgemein erforderlich». Boyancés Kritik am «Konservatismus von Herrn Bollack» wertet Bourdieu als «weitere typisch kleinbürgerliche Strategie: links überholen».
Bourdieu schlägt Bollack einige Änderungen oder Ideen vor, um die Erwiderung heftiger zu gestalten. Wie immer herrscht zwischen Bollack und Bourdieu ein offenes Wort: «Man muss kämpfen», «es herrscht Krieg», «benutzen Sie diese Waffen» usw. Für die Kenner der beiden Gelehrten erstaunt diese kämpferische Übereinstimmung nicht. Es war die Stunde der grossen Debatten; die traditionelle Universität, jene der «Schulmeister», wehrte sich heftig gegen die Änderungen, die jeder der beiden für seine Disziplin vorschlug, Bourdieu für die Soziologie, Bollack für die Altphilologie.
In seinen autobiografischen, posthum 2013 erschienenen Aufzeichnungen Au jour le jour fasst Jean Bollack die Auseinandersetzung folgendermassen zusammen: « Bourdieu hat einen gnadenlosen Kampf gegen die falsche Wissenschaft geführt, einen Kampf, den ich unterstütze; es sind all die Anmassungen auf den vorgespurten (und ausgetretenen) Pfaden, die uns umgeben und uns ersticken.»
Auf in den Kampf (PDF, 380 kB, 27.08.2018)Der kleine Bund, Finale, Freitag, 24. August 2018
Letzte Änderung 27.08.2018
Kontakt
Schweizerische Nationalbibliothek
Schweizerisches Literaturarchiv
Hallwylstrasse 15
3003
Bern
Schweiz
Telefon
+41 58 462 92 58
Fax
+41 58 462 84 08