Selbstentwürfe in Collagen?

Der Schreibprozess endet nicht mit dem Text, sondern mit dessen Verpackung. Umschlagentwürfe aus den 1970er-Jahren bezeugen den Gestaltungswillen der Autorinnen.

Von Irmgard Wirtz

Die Umschläge ihrer Bücher gestaltete die künstlerisch autonome Erica Pedretti, Absolventin der Kunsthochschule Zürich, selber: Die Fotomontagen für ihren zweiten Roman Heiliger Sebastian (1973) wurden dem Suhrkamp Verlag mit Regieanweisungen übersandt. Die Fotografien dazu stammen von Gian Pedretti. Obwohl das Erscheinungsbild der Buchreihen des Suhrkamp Verlags seit den fünfziger Jahren fest in der Hand von Willy Fleckhaus lag, der mit seiner Graphik über Jahrzehnte die Erkennbarkeit der Suhrkamp-Bücher gewährleistete, waren solch künstlerische Interventionen der Autorinnen willkommen. Dass sich der Gestaltungswille von Autorin und Corporate Identity des Verlags miteinander vereinbaren liessen, zeigt die Verbindung der verlegerischen Typographie mit dem Foto aus dem Familienarchiv der Pedrettis auf dem Schutzumschlag.

Auch Hanna Johansens Schutzumschläge bei Hanser basieren auf Collagen. Der Umschlag für Johansens zweiten Roman Trocadero variiert die Themen des Romans. Dessen Protagonistin befindet sich in der albtraumartigen Ausgangslage, aus zwei Fischen eine Mahlzeit für ein halbes Dutzend anonymer Herren zubereiten zu müssen. Sie befindet sich in einer labyrinthischen Villa, in der sie vergeblich nach weiteren Zutaten für ihr Menü sucht. Im Dialog mit ihrem Lektor Michael Krüger diskutiert Johansen verschiedene Entwürfe: Der Titel Schneewittchens Küche wird durch Trocadero, das Fisch-Stillleben mit Küchentuch von Braque durch die Architektur-Grafik von Piranesis labyrinthischen Palästen ersetzt, der Fisch, zunächst unterhalb collagiert, verschwindet ganz vom Umschlag und kann nur mehr im Schattenwurf der Gewölbe Piranesis erkannt werden. Aus der Collage wird eine kunstvolle fotografische Montage, in der die Elemente miteinander verfugt sind. Die äussere Darstellung der Motive Fisch-Küche-Labyrinth kann der Leser im Bild entdecken.

Aufbruch in der Schweizer Literatur der 1970er-Jahre: Avantgarde weiblich

Erica Pedretti (Harmloses, bitte, 1970), Gertrud Leutenegger (Vorabend, 1975) und Hanna Johansen (Die stehende Uhr, 1978) haben mit der Exploration der Innenwelt der Aussenwelt der Innenwelt debütiert und schriftstellerische Fahrt aufgenommen, die heute als Aufbruch in der Schweizer Literatur bezeichnet wird. Die Protagonistinnen sind Suchende ihrer Selbst und beziehen hieraus eine solche Spannung, dass die Romane kaum äusserer Handlung bedürfen. Dieses Erzählen orientiert sich weniger an der realistischen Tradition der Schweizer Literatur als viel mehr an den französischen Avantgarden: Den surrealen Szenarien in den Träumen Meret Oppenheims, der Zugfahrt in Michel Butors La modification oder der zerschlagenen Uhr, dem Réveil matin Francis Picabias, der die Zeitschrift Dada no 4-5 illustrierte, das Symbol angehaltener oder flüchtiger Zeit. Die Uhr erscheint nicht nur auf Cover oder Titel der Romane Pedrettis und Johansens, sondern leitmotivisch.

Pedretti vergleicht in Harmloses, bitte im Blickwechsel von Dort nach Hier das Leben in der neuen Heimat im Engadin mit der alten Heimat Mähren. Es geht um Erinnerung, Begegnung, Selbsterfahrung. Leuteneggers Erzählerin durchschreitet in Vorabend die Strassen vor einer Demonstration, um „ganz richtig dabeizusein", denn „Mitlaufen ist es nicht". Die subjektive Aneignung des kollektiven Ereignisses ist Vorbereitung und Vorwegnahme des Zukünftigen. Beider Blicke gleiten über die Aussenwelt, die sie sich aneignen.

Die Protagonisten befinden sich in geschlossenen Räumen, im Eisenbahnwagen, der Blick durch das Fenster verbindet sie mit der Welt. Der Aufbruch klingt im Heiligen Sebastian mit Joan Baez programmatisch Take me to the station/ put me on the train/ I got no expectation für das neue Lebensgefühl. Der im doppelten Wortsinn erfahrene Raum legt die Spur im Text, die sich voraussetzungslos suchenden Worte erschliessen neue Welten.

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