Was macht die Avantgarde, wenn sie alt wird? Sie räumt das Feld von hinten auf. Beim Zürcher Verleger Peter Schifferli erhielten die ausgedienten Dadaisten eine Plattform zur Selbsthistorisierung.
Von Magnus Wieland
Wer hätte das gedacht: Die ehemalige Avantgarde, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts radikal von jedem Traditionsanspruch abnabelte, nimmt nur ein paar Dekaden später Zuflucht zur Arche, um die eigene Überlieferung zu retten. Gemeint ist der 1944 gegründete Arche Verlag in Zürich, dessen ›Kapitän‹ und Steuermann passenderweise Schifferli hiess, Peter Schifferli. Ihm ist es zu verdanken, wie es seine Nachfolgerin Elisabeth Raabe formuliert, dass der Arche Verlag «in den 1960er-Jahren die unangefochtene Vorreiterrolle für den Zürcher Dada innegehabt» hatte. Hoffnungsvoll wandten sich die in der Nachkriegszeit versprengten Dadaisten an das Zürcher Verlagshaus und baten um Aufnahme.
In einem Brief schreibt Walter Mehring, der in den 1940-Jahren in die Vereinigten Staaten emigrierte: «Es ist ja kein Wunder, wenn es mit Europa abwärts geht, in der Art wie man da uns U.S.A. DA-DA-Veteranen behandelt...». Die Selbststilisierung als Veteran - abgeleitet von der lateinischen Bezeichnung vetus für altgediente Soldaten - deutet an, dass die einstmals kämpferische Avantgarde in den Ruhestand getreten ist, sich nun aber durch aktuelle literarische Tendenzen wieder herausgefordert fühlt. Richard Huelsenbeck, der ebenfalls in die USA emigrierte und sich dort als Psychiater etablierte, verfolgte das Aufkommen der neuen Beat-Bewegung sehr genau. Im Brief vom 4. Januar 1959 berichtet er an Schifferli:
Ueberall in der Welt, auch hier in Amerika, sind die wesentlichen Ideen des Dadaismus lebendig. Sie haben sicher von der «Beat Generation», deren Hauptvertreter Kerouac und Ginsberg sind, gehoert. Kerouac schrieb zwei sensationelle Buecher, «On the Road» und «The Subterranians». Beide haben sozusagen «Dada-Spirit».
Raoul Hausmann wiederum berichtet von seinen Kontakten zu George Maciunas, dem Begründer der Fluxus-Bewegung, sowie zur SPUR-Gruppe und zu den Internationalen Situationisten, die er als «neodadaistische Bewegungen» erkennt, diese allerdings wie seine ehemaligen Dada-Kumpanen nicht ohne Skepsis betrachtet: «Ich bin in Briefwechsel mit Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck und Hans Richter, sie erklären alle, dass der Neodadaismus nur eine schwache Nachahmung sei.» Mit dieser Überzeugungshaltung entspannt sich unter den genannten Personen eine Art Netzwerk, dessen korrespondierende Mitglieder allesamt ein reges Interesse daran zeigen, das kulturelle Erbe Dadas wach zu halten und seine Bedeutung für die Nachwelt zu dokumentieren. So wurde die Arche zu einer Art Nostalgie-Zentrum der alternden Garde von Dadaisten, die sich selbst historisch geworden ist.
Dabei stiegen auch die Erwartungen und Ansprüche der Dada-Veteranen, die untereinander überdies nicht konkurrenzlos agierten: Ein jeder wollte seine Memoiren im Verlag untergebracht wissen, jeder wollte eigens - wie in der abgebildeten Collage - die Frage beantworten: «Was also war DADA?» So konnte sich Schifferli eine Zeitlang vor Publikationsangeboten kaum retten und der dadaistische Druck lastete mitunter stark auf ihm. Das mag eine scherzhafte Zeichnung Walter Mehrings verdeutlichen, mit der er dem - aus seiner Sicht - säumigen Verleger Beine machen wollte: Sie zeigt einen riesigen Teufel, der Schifferli am Schlafittchen packt und in sein Verlagshaus bugsiert (siehe Bild). In einer nicht minder launigen Replik gibt der Verleger sodann zu verstehen, dass er sich nachgerade «hingerichtet und gevierteilt» fühle von seinen «ungeduldigen Autoren, sozusagen auf dem Altar von Dada zum Opfer gebracht».
Hinweis: Im Rahmen des Jahresthemas zu den Avantgarden ist vom 20. Juni bis zum 2. Juli 2016 im Schweizerischen Literaturarchiv die Kabinettausstellung «Avantgarden im Verlag: Arche, Walter Drucke, Urs Engeler Editor» zu sehen.
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