Im Oktober 2011: Erica Pedretti

Suche nach den verlorenen Bildern
Mit der Beschreibung der Brüder beginnt ein neuer Roman: Dieser erste Entwurf basiert nicht auf Erlebnissen, sondern auf erinnerten Bildern. Die Buben sind im Stil der Zeit gekleidet, ihre Haltung verrät ihre Eigenarten. Lederhose und Matrosenbluse wechseln wie Alltag und Feiertag und weist auf sparsame Eltern hin, die nicht dem Wechsel der Moden folgen. Irritierend ist die Zusammenstelllung: Wie trägt sich ein Matrosenhemd über der Lederhose? Die Erinnerung zieht verlorene Fotografien zu einem Erinnerungsbild zusammen. Monate später fördert die Recherche im Familienarchiv die Fotos zutage und zeigt, was die Erinnerung zusammengeschoben hat.
 

Brüder
Da posieren sie nebeneinander, die beiden Buben, im Hintergrund ein Mauersims, drauf links und rechts am Bildrand je eine grosse Blumenvase. Sie tragen dieselben Hosen und Hemden, dieselben flachen, breitrandigen Hüte auf ihren Köpfen. Und sind doch so verschieden, wie zwei Brüder sich überhaupt unterscheiden können. Der Grössere steht ganz gerade, den Hut gerade auf der Stirn, blickt er ernsthaft gradaus in die Weite, der Kleine steht locker da, die Hände in den Hosentaschen, sichtlich vergnügt, sein Hut ist auf den Hinterkopf gerutscht. Das passt zu ihm. Zweimal dieselben Matrosenblusen mit den blaugeränderten Krägen und blauen Knoten, (auch wenn das Blau auf dem alten Foto schwarz ist, weiss man, es ist dunkelblau), zweimal so genannte kurze Hosen. Es handelt sich um Lederhosen, einige Nummern zu gross, obwohl von Hosenträgern hoch in die Brust gezogen, reichen sie bis weit unter die Knie, dem Kleinen fast bis zu den hohen Schuhen und lassen auf eine sehr sparsame Mutter schliessen.
Möglicherweise waren praktische, vielleicht sogar prekäre Umstände der Grund für solche Sparsamkeit. Es waren die Gründer-Jahre, die Weberei war klein und der Vater hatte einen neuen Ort, eine neue, grössere Fabrik im Auge.
Vielleicht waren es auch gar keine Matrosenblusen, ich beschreibe ein Bild aus der Erinnerung, eine sehr alte, längst verloren gegangene Fotografie. Ja, die beiden tragen Lederhosen, vorn mit einem breiten, dekorativen Hosenlatz. Das waren sehr teure Stücke, die ein Leben lang hielten und drum sehr gross angeschafft wurden.
Beide Brüder haben, eher zu den Lederhosen als zu Matrosenanzügen passend, kleine, hölzerne Gewehre umgehängt. Ihr Vater muss ein Jäger sein. Drum sitzt auch ein Jagdhund neben ihnen, fast gleich gross wie sie, ein schöner Vorstehhund.
Dieser Hund und seine Nachkommen haben die Brüder treu begleitet, auch später, als sie erwachsen wurden, fast lebenslang. Vor allem den Jüngeren, der ist, wie sein Vater, ein passionierter Jäger geworden, im Gegensatz zum älteren Bruder, der nur sehr selten jagte.
Auf der Rückseite des Bildes ist ein Fotograf angegeben, wahrscheinlich am Hauptplatz von Mährisch Trübau, der kleinen Stadt, wo die beiden geboren wurden und ihre ersten Jahre verbrachten.

Nun werde ich nicht vorgeben, aus dem alten Bild, aus Physiognomie und Körperhaltung die Zukunft, die zukünftigen Biografien herauszulesen, obwohl das teilweise möglich wäre.
Die Buben kannte ich zur Zeit dieses Bildes noch nicht, habe sie erst viel später, etwa dreissig Jahre später kennen gelernt. Der grössere, Hermann, wurde mein Vater, der jüngere, Oskar, mein Onkel.
Und jetzt will ich, bevor ich noch älter und noch vergesslicher werde, alles aufschreiben, was ich von ihnen weiss, ob erfreulich oder traurig, alles.

 

«Einsichten - Aussichten» im November 2011: Vahé Godel

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