Kleine grosse Welt
"Erinnerungen schwinden, Abbildungen halten sich, und altert das Material, bleiben sie reproduzierbar, aber wesenlos ohne das Wiedererkennen, die Lesart ihrer Betrachter" (Ingeborg Kaiser, gegen abend oder später, 2010, S. 44). Literarische Archive sind bemüht, Material zu erhalten. Fehlen Dokumente und Abbildungen, haben jedoch auch Archive dem Verblassen der Erinnerungen nichts entgegenzusetzen.
Mit Mäandern belebt Ingeborg Kaiser vier von unzähligen Erinnerungsschlaufen. Sie holt die täglichen Entdeckungsreisen eines kleinen Mädchens in Deutschland kurz vor Kriegsausbruch hervor, erzählt von einem abrupten Ende dieser Strolchereien und davon, was trotzdem geblieben ist.
Mäandern
Es gibt keine Abbildung, aber die Erinnerung und den Versuch, sie zu beleben. Dann schiebt das Kind mit ganzer Kraft die hohe Eichentüre des Gemeindehauses einen Spalt weit auf und entschlüpft den Eltern in der Postagentur, dem grossen Bruder, der als Linkshänder zum wiederholten Mal seine Aufgaben auf die Schiefertafel schreibt, bis das Schriftbild vor dem kritischen Vater, Skatbruder des Lehrers, Apothekers oder Tierarzts, bestehen kann. Im ersten Stock die Wohnung der Lehrerfamilie, über den gepflasterten Gang, die geschwungene, dunkel gebeizte Treppe aufzusuchen. Dann ist Teezeit, mit Zitrone oder Milch für das Kind, spielt die Lehrersfrau Schumanns Kinderszenen und das Kind träumt sich weg.
Täglich sein heimlicher Aufbruch, wenige Stufen bis zur Strasse, die durch den geräumigen Marktflecken zum entfernten Bahnhof und weiter, von Alleebäumen gesäumt, ins fruchtbare Land führt. Die Kirche mit Zwiebelturm dominant über den Dächern, noch nicht bedrohlich für das vierjährige Kind, auch nicht der "Völkische Beobachter", den der Vater abonniert, sich infizieren lässt. Das Kind ist ein Strolch mit Vorlieben, holt sich woanders, was ihm zuhause abgeht, die musikalische Teestunde, Geschichten im kinderlosen Tierarzthaus, aber auch Läuse, wenn seine Locken, entgegen der mütterlichen Weisung, wieder in Eugeniens Friseurgeschäft gebändigt worden sind. Immer wieder wird der grosse Bruder losgeschickt, um das Kind aufzuspüren, das einmal bis zum Bahnhof gelaufen, ein anderes Mal auf die Strasse gerannt sei und, ohne seinen Bruder, von einem Auto erfasst worden wäre.
Im Keller des Gemeindehauses zwei Holzverschläge, mit Vorhängeschloss und einer Kette gesichert, wo der Brandstifter, der Dieb oder die Kindsmörderin bis zu ihrem Transport in die Stadt verwahrt bleiben. Das Kind hinter Holzstäben, zum ersten Mal bestraft, hört das Wimmern einer Frau, sieht das Schattenhuschen, ein Tier mit langem Schwanz. Sein ungebändigter Schrei übertönt das Weinen im anderen Verschlag und alarmiert seine Mutter.
Und wieder das Kind auf der Treppe, von der getragenen Blasmusik angelockt, dem langen Zug dunkel gekleideter Menschen, rafft es sein Röckchen und beginnt sich nach der Musik zu bewegen. Hinter dem Vorhang die Mutter, die befremdliche Unruhe der Leidtragenden macht sie aufmerksam und sie zieht das Kind zurück ins Haus. Dann der Tag, wo das Kind, von seinen Streifzügen zurück, die Wohnung leergeräumt findet. Es kauert sich an den noch warmen gemauerten Herd in der Küche, verlassen, unbehaust, bis die Mutter kommt. Und mit ihr der Umzug in eine fremde Stadt. Seither die Abschiede zu üben. Bleibend das Kind, seine Kraft, der unbefangene Tanz auf der Treppe, zurückzuholen, wenn es klemmt.
«Einsichten - Aussichten» im Juli 2011: Gion Deplazes
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