Auf der Suche nach einem Leben ohne Kleider

Ist die Schweiz ein Land der Freikörperkultur? Bedeutet Freikörperkultur einfach nur Nacktsein? Die Schweizerische Nationalbibliothek deckt auf, wie die naturistische Bewegung in der Schweiz entstanden ist und wofür sie jenseits der gängigen Klischees steht.

Freikörperkultur stellen wir uns oft als gelebte Freiheit vor. Der Lebensstil, der sich auf eine Rückkehr zum natürlichen Zustand beruft, wird gemeinhin mit einer sommerlich sonnigen Stimmung assoziiert. Er lässt an berühmte Ort wie die Île du Levant oder die Strände des Cap d’Agde denken, an Aktivitäten im Freien, ans Baden oder Wandern. Und die Mutigen unter uns erinnern sich ergriffen an die besondere Freiheitserfahrung, die sie selbst erlebt haben. 

Bergwanderrast
Bergwanderrast, Fotografie, veröffentlicht in: die neue zeit, Nr. 5 (1929), S. 108
© Stiftung «die neue zeit»

Auch in der Schweiz ist man gerne nackt. 

Die auch als «Naturismus» bezeichnete Freikörperkultur entstand als Bewegung für ein gesundes Leben im 19. Jahrhundert, insbesondere in Deutschland. Sie verbreitete sich rasch und stiess auch in der Schweiz auf Interesse. Einer der Schweizer Wegbereiter ist der Seeländer Eduard Fankhauser. Ein Treffen mit dem Schriftsteller Werner Zimmermann, Anhänger des gesunden Lebensstils und bekannt als einer der ersten Naturschützer des 20. Jahrhunderts, überzeugt ihn von den Vorzügen der Freikörperkultur. Sein Engagement für ein Recht auf Nacktheit rieb sich rasch an den Grenzen der Schweizer Gesetze, die konservativer sind als jene der Nachbarländer. In der Folge gründet er 1927 den «Schweizer Lichtbund», die heutige «Organisation von Naturisten in der Schweiz» (ONS) mit Sitz in Thielle zwischen dem Bieler- und dem Neuenburgersee. 

Für seine Anhängerschaft ist der Naturismus nicht nur das Ausleben der natürlichen Nacktheit, sondern ein ganzer Lebensstil, zu dem die Förderung der Gesundheit und der Verzicht auf Alkohol, Tabak und Fleisch gehören. Vegetarierinnen und Vegetarier gelten deshalb als Vorbilder für diese Rückkehr zur Natur. Der Naturismus steht auch für eine Distanzierung vom modernen, materialistischen Leben mit seiner Anhäufung von Reichtum und Gütern und für ein einfaches, aber sinnvolles Leben.

Paradiesische Zustände

«Ferien ohne Rauch, Alkohol, Fleisch und Zebrastreifen auf der nackten Haut»: So warb 1971 eine Broschüre für Feriencamps in ganz Europa, in denen Naturistinnen und Naturisten ihre Ferien unter Gleichgesinnten und abseits des Massentourismus verbringen konnten. Laut der Schweizer Naturisten Union gibt es in der Schweiz heute etwa zehn solche Orte. 

Von Anfang an werden die Teilnehmenden dazu aufgefordert, nicht nur ihre nackte Haut der heilenden Wirkung von frischer Luft und Sonne auszusetzen, sondern auch ihren Körper mit regelmässigen sportlichen Aktivitäten zu stärken. Naturismus ist übrigens nicht nur ein saisonales Sportphänomen: An schönen Tagen wird er im Wasser (Schwimmen) oder an Land (Wandern, Bogenschiessen) praktiziert, im Winter auf Skiern – was natürlich eine gewisse Abhärtung erfordert. Viele Dokumente in der Allgemeinen Sammlung der Nationalbibliothek, etwa die Zeitschrift «die neue zeit», bezeugen den «Nacktsport». Einige Beispiele sind in den untenstehenden bibliografischen Angaben aufgeführt. 

Von den gängigen Schönheitsidealen der Gesellschaft distanziert sich der Naturismus allerdings. Für die naturistische Bewegung gibt es keine ästhetischen Ideale: Von Sonne und frischer Luft gepflegte Körper sind ausnahmslos schön. 

Zurück zur Einfachheit

Gemäss Karl Dudler «ist die Nacktheit kein Widerspruch zur Moral»: Sie wird nicht mit Sexualität assoziiert, wie es in der damaligen Gesellschaft vielleicht zu erwarten wäre. Die ONS war denn auch sehr skeptisch gegenüber der sexuellen Befreiung der 1960er- und 1970er-Jahre: Sie kritisierte die zunehmende Kommerzialisierung der Sexualität und distanzierte sich vehement von Gesellschaftsbewegungen, die ein freies, ausschweifendes Sexualleben forderten. Für den Naturismus stehen der «reine Körper» und damit verbunden der «reine Geist» im Zentrum. Die ONS verfolgte schon bei ihrer Gründung das Ziel, die Nacktheit untrennbar mit der Moral zu verbinden. Zukünftige Mitglieder der Organisation mussten in einem Fragebogen die Beweggründe ihres Aufnahmegesuchs darlegen und verheiratete Paare wurden Alleinstehenden im Allgemeinen vorgezogen. So wollte man den Vorwurf entkräften, dass die Freikörperkultur als Vorwand für sexuelle Beziehungen diene, wie die Historikerin Eva Locher festhält. 

Der Naturismus hinterfragt unsere Lebensweise. Wäre ein einfacheres Leben fern von moralischen Verurteilungen und gesellschaftlichem Druck möglich und vielleicht sogar besser? Vielleicht stellen Sie sich solche Fragen ja selbst, falls Sie diesen Sommer etwa nach Berlin reisen: Bekleidet in der Spree baden oder nackt im Teufelssee?

Literatur und Quellen

Letzte Änderung 22.06.2023

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