2016. Boris Previšić: Das narrative Potenzial

Boris Previšić (Hrsg.), Gotthardfantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur, Baden, hier und jetzt, 2016. Titelbild.
Boris Previšić (Hrsg.), Gotthardfantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur, Baden, hier und jetzt, 2016. Titelbild.

Der Gotthard-Mythos wird Anfang des 20. Jahrhunderts von der Geschichtswissenschaft geprägt. Bald schon hält er, vor allem über die Ideologie der Geistigen Landesverteidigung und die Popularität der Gotthardbahn, in das Schweizer Nationalbewusstsein Einzug. Ab den 1970er Jahren wird der Mythos sukzessive dekonstruiert, wiederum von der Geschichtswissenschaft, die nachweist, dass der Gotthardpass im Spätmittelalter keine grosse wirtschaftliche Bedeutung besass. Dennoch hat der Gotthard in der Öffentlichkeit nach wie vor eine herausragende Stellung inne.

Heute ist der Gotthard für die Geschichtswissenschaft wie für die anderen Geisteswissenschaften ein - kontextualisierter - Berg unter anderen Bergen. Das hält die Wissenschafter indes nicht davon ab, sein mythisches Potenzial kreativ zu nutzen, «Sinnangebote zu konstruieren» und «Perspektiven zu eröffnen». So formuliert der im Mai 2016 erschienene Sammelband Gotthardfantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur, den der Literaturwissenschafter Boris Previšić herausgegeben hat. Der Band bietet eine Fülle von Untersuchungen zu verschiedenen Aspekten des Gotthards: zur Gotthardpost und -bahn, zum russischen General Suworow, der am Gotthard um 1800 gegen Napoleons Truppen kämpfte, zum Réduit, zu Goethe, der auf dem Pass oben jeweils umkehrte, und natürlich zum Gotthard-Mythos.

Der Titel «Gotthardfantasien» ist mindestens doppeldeutig: Er bezieht sich auf die ältere phantastische Überhöhung des Gotthards und zugleich auf dessen heutiges gedankenstimulierendes Potenzial, aus dem neue «Narrative», wie der modische Begriff lautet, abzuleiten sind. Dass diese neuen Geschichten jenseits des nationalgeschichtlichen Deutungsrahmens erzählt werden, der um 1900 von der Geschichtsschreibung gezimmert worden ist, versteht sich von selbst. Der Gotthard-Mythos ist dekonstruiert, aber seine Geschichte ist nicht zu Ende.

Boris Previšić (Hrsg.), Gotthardfantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur, Baden, hier und jetzt, 2016.

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Quelle

Boris Previšić (Hrsg.),
Gotthardfantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur, Baden, hier und jetzt, 2016.  

https://www.nb.admin.ch/content/snl/de/home/publikationen-forschung/thematische-dossiers/gotthard-hist/2016.html