Heinz F. Schafroth: Ein Brief aus Wien

Seit vielen Jahrzehnten stehen Deutschschweizer Autorinnen und Autoren in einem freundschaftlichen Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen in Österreich.

Von Lukas Dettwiler

Einen persönlichen Brief schreiben oder noch schöner, erhalten, ist seit dem Aufkommen der E-Mail eine zunehmend verdrängte Kulturpraxis oder Erfahrung. Das besagen nicht nur statistische Erhebungen. Der ehemals gültige Satz „Wotsch e Brief, so schryb e Brief", ist antiquiert, überholt vom Blick in den „Posteingang", den wir rund um die Uhr abrufen können, um dort eingegangene Nachrichten zu lesen und allenfalls zu beantworten, unabhängig von werktäglich von Menschenhand zugestellter „Post" im Briefkasten über dem „Milchkasten". Nur selten finden sich darin noch ‚richtige' Briefe (also persönliche). Dass ein Papierteller eine briefliche Mitteilung überbringt, also (geistige) Nahrung, ist jedoch eine Rarität, die selbst in einem Literaturarchiv die erstaunliche Vielfalt an ‚Schriftträgern' übertrifft. Denn seine übliche Verwendung ist, wie die Autorin ja selbst erklärt, eine ganz andere:
„Solche Papierteller verwende ich jeden Morgen. Ich stelle meine Kaffeeschale drauf, um Geschirr zu sparen, es ist aber auch 1 Discus, vielleicht Musik oder Wurfgeschoss (zärtlicher, natürlich). Deine alte f"

Mit „f" pflegt die Dichterin Friederike Mayröcker, die Grande Dame der Literatur Österreichs, ihre Briefe in trautem Kreis zu unterschreiben. Das abgebildete „Wurfgeschoss" mit seiner Mitteilung auf der Kehrseite des Tellers, liegt mit über 110 anderen Briefen und Karten Mayröckers im Archiv des bekannten Literaturkritikers Heinz F. Schafroth (1932-2013), der das Werk der Österreicherin über Jahrzehnte als ihr ‚erster Leser, Herausgeber und Kritiker aus nächster Nähe begleitete. Nähe ist eine Voraussetzung, um einen solchen Brief zu erhalten, geschrieben auf einem gängigen Gebrauchsgegenstand in Zeiten der Wegwerfkultur. Statt zum Schnellverzehr eines Würstchens mit Kartoffelsalat oder als Behältnis für ein Kuchenstück am Kindergeburtstag, birgt der Mayröckersche Teller eine briefliche Mitteilung, deren Lektüre ein Schneckentempo erfordert und die sich erst, ähnlich einem Kassiber, auf der Unterseite des Tellers offenbart. Die gut sichtbare, durch Pressung (zwecks Stabilität des Tellers) herausgestanzte Umrandung verleiht Mayröckers „Inschrift" eine Zierde, die an den mit Lotusblütenkelchen umrankten Blumenkranz am Kopf einer griechischen Kore erinnert. Die doppelte Umrandung verleiht dem Schreiben eine besondere Festlichkeit.

Auf der ‚richtigen', also der konkaven, für den Gebrauch als ‚Ding' gedachten Seite des ‚Schriftstückes', zeigt Mayröckers Tellerbrief die Autorin in einem Selbstporträt, einem Kopfbild mit dem Zusatz "b.w." (bitte wenden). Ihr Brief oszilliert so zwischen Mitteilung und Gegenstand, korrespondiert damit ebenso mit der Schnittstelle von Leben und Werk der Dichterin und lässt den Adressaten teilhaben an ihrem Alltag - bestimmt hätte sie ihrem Kritiker gerne eine Tasse frisch gebrühten Kaffees dazu serviert.

Hinweis
Quarto, die Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs, widmet sich in ihrer neuesten Nummer Graz sei Dank! den österreichisch-schweizerischen Querbeziehungen. Darin findet sich u.a. ein Artikel zur Korrespondenz von Friederike Mayröcker. Das Heft wird am 18. Mai an der Vernissage in der Nationalbibliothek vorgestellt. Ein Gespräch zwischen Literaturschaffenden aus Österreich und der Schweiz ergänzt die Veranstaltung. Originaldokumente aus den Beständen des Schweizerischen Literaturarchivs, darunter das hier abgebildete, werden in der begleitenden Kabinett-Ausstellung (17.-30.5.) präsentiert.

Friederike Mayröcker, geb. 1924 in Wien, debütierte 1956. Ihr Werk ist mit über zwanzig Auszeichnungen bedacht worden, zuletzt 2015 mit dem Ehrendoktorat der Universität Innsbruck.
Heinz F. Schafroth (1932-2013) unterrichtete Griechisch und Deutsch am Gymnasium Biel-Seeland in Biel. Er war als unabhängiger Literaturkritiker und Herausgeber ein zentraler Literaturvermittler weit über die Schweizer Grenzen hinaus und mit Friederike Mayröcker und Ernst Jandl wie mit vielen anderen in langjähriger Freundschaft verbunden.

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