Wie der Dichter zum Wort kommt, lässt sich an Kurt Martis «Lexi-Fiktion» studieren. Der Berner Pfarrer und Autor legte in Heften ganze Datenbanken von Ausdrücken, Zitaten und Gedichten an.
Von Lucas Marco Gisi
Beim Sammeln von Wortmaterial ist der Berner Autor und Pfarrer Kurt Marti, der dieses Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, äusserst systematisch vorgegangen. In sein fiktives Lexikon «Abratzky» (1971) hat Marti auch den «Speicherling» aufgenommen, der «rastlos in Heften, Kartotheken, Registern […] nützliche oder auch unnütze Materialien speichert». Dahinter verstreckt sich mit feiner Ironie der reale Autor, der ganz ernsthaft Wörter verzeichnet hat.
In Martis Nachlass haben sich zwei Ringordner und ein schwarzes Wachstuchheft mit alphabetischem Register erhalten, die als Datenträger für Wörter und Zitate dienten. Theologische Begriffe stehen neben Namen von Pflanzen, Gerichten und Beschwerden. Aufbewahrt werden auch Dialektausdrücke (wie «chüderle»), 14 Wortverbindungen mit «zwäg» (wie «zwägschnurpfe»), sardische und elsässische Ausdrücke oder das Wort «Mond» in 19 Sprachen von Holländisch bis Sanskrit. Selbst die trockene Ablageordnung dient der kritischen Spracharbeit, indem beim Ausdruck «dämlich» kommentarlos auf «herrlich» verwiesen wird.
Zu Stichwörtern von «Anarchismus» bis «Zeit» sind in einem der Ringordner rund 1500 Zitate und Gedichte aus literarischen und theologischen Texten abgelegt. Dass Marti verschiedenfarbige Filzstifte für seine Einträge verwendet hat, scheint deren inhaltlicher Vielfalt zu entsprechen, ist aber vor allem durch den nicht linearen, offenen Entstehungsprozess der Sammlungen bedingt. Marti hat die Arbeit mit einem Computer zwar Zeit seines Lebens abgelehnt, jedoch mit seinen durch Verweise verlinkten «Wörterbüchern» durchaus Datenbanken angelegt.
Einen Sprachschatz der ganz besonderen Art stellt der «Wortwarenladen» dar, ein Typoskript, das in enzyklopädischer Ordnung mehr als 5000 «erlesene» Wortbildungen und poetische Umschreibungen sowie deren Urheber versammelt. Der «Mond» geht als «Mondknospe» (Else Lasker-Schüler) oder «Goldblick» (Jean Paul) auf, im Gebiet des Gesellschaftlichen trifft man auf das «Entrüstungsmeeting» (Arno Schmidt) oder die «Infoholics» (Botho Strauss), und Literatur wiederum kann «diktionärrisch» (Arno Schmidt) oder «vokabulös» (keine Quellenangabe) sein.
Doch Marti hat nicht bloss ausgesuchte sprachliche Raritäten aufgehoben, sondern aus diesem Fundus auch für sein eigenes literarisches Werk geschöpft. Seine «Lexi-Fiktion» greift Formen der objektiven Wissensvermittlung auf, um – wie in der erwähnten Lexikon-Parodie – zu einem kritischen und kreativen Umgang mit Wissen anzuleiten. Das gesicherte Material bildete gleichsam den «Grundwortschatz» für eigene Sprachschöpfungen. So hat Marti «alfabeete» (1966) angelegt, um Wörter anderer «Züchter» aufzuziehen, sich in seinen Aufzeichnungen immer wieder aus seinem «Wortwarenladen» bedient oder aus der Variation des Namens «Verena» eine poetische «vrénésie» abgeleitet.
Um systematisch zu rekonstruieren, wie Marti Wortlisten zu Gedichten verwoben hat, wäre man vermutlich auf einen Computer angewiesen – und würde damit der verspielten Lautlichkeit seiner Dichtung, wie sie im «lyrischen Vortrag» erlebbar wird, trotzdem nicht auf den Grund gehen.
Neben seiner Tätigkeit als Pfarrer publizierte Kurt Marti (1921–2017) ab 1950 Gedichte und Prosa. Er engagierte sich öffentlich für den Frieden und ökologische Themen.
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Letzte Änderung 24.08.2021