Die hohe Schule der Einfachheit: Die Entstehung von Mani Matters Lied Hemmige

Als Chansonnier sang er sich auf Dauer ins Liedgut der Schweiz, als Jurist und Denker setzte er sich mit Staatsrecht und Zivilisationsprozess auseinander.

Von Ulrich Weber

Kaum eine Deutschschweizerin oder ein Deutschschweizer, die nicht aus dem Stand ein paar Zeilen aus einem Lied von Mani Matter singen könnten. Zu den bekanntesten gehört gewiss der Refrain «wöu si Hemmige hei», in dem so treffend ein verbreitetes Schweizer Wesen charakterisiert ist. Doch neben unserer Hemmung, «es Lied vorz’singe so win ig jitz hie», geht es Mani Matter auch um grössere Dimensionen, fragt er doch: «Was unterscheidet d’Mönsche vom Schimpans?»

Aufgetaucht Mani Matter
Auf einer alten Stadtratsliste (in Grün) notierte Mani Matter Ideen für das Lied «Hemmige». (Foto: NB, Simon Schmid)

Mit seinem Understatement als «Värslischmid» hat Mani Matter versteckt, wie viel intellektuelle Auseinandersetzung und sprachliche und musikalische Feinarbeit sich hinter seinen vordergründig so schlichten und selbstverständlichen Liedern verbirgt. Matter schrieb nicht, ‘wie ihm der Schnabel gewachsen war’: Seine Mundarttexte sind in langen Arbeitsprozessen geschliffene, von Sprachwitz durchzogene Kunstwerke in Umgangssprache.

Ein grünes, wiederverwertetes Ausschussblatt in Matters Nachlass zeigt den Ausgangspunkt – es ist eine alte Kandidatenliste für die Berner Stadtratswahlen von 1959, auf der für das «Junge Bern» auch ein gewisser Hanspeter Matter, cand. iur. erscheint. Matter hat solches Papier offenbar über längere Zeit wiederverwendet. Auf der Rückseite der Liste findet sich ein in Hochsprache gehaltenes erstes Konzept: «(eine Hemmung) / Einer hat Hemmungen, / etwas zu sagen; aber zugleich / wächst in ihm Widerstand gegen die Hemmungen…) / er will es, er muss es sagen; / sodass, wenn er es sagt, / dieser Widerstand im Reden mitklingt / und jeder denkt: Wie schroff er das sagt / wie ungehemmt er ist! – / und er selbst bereut, es gesagt zu haben.» Von dieser Reflexion zur Dialektik der (Ent-)Hemmung ist es über verschiedene Liedentwürfe in Mundart ein weiter Weg bis zum Chanson «Hemmige», das 1970 als ‘Single’-Platte im Zytglogge Verlag erschien und uns bis heute in den Ohren nachklingt.

Doch wie kam Matter auf die Idee, über «Hemmige» zu schreiben? Fritz Widmer, mit dem er unter den Berner Troubadours am engsten zusammenarbeitete, erinnert sich in seinem Buch «Unverrückt»: «Einmal erzählte er, er habe gerade gelesen, dass die eigentlichen Kulturleistungen der Menschheit allesamt auf Hemmungen zurückzuführen seien. Er finde das ein Lied wert.» Wenn Mani Matter 1969 in sein (postum in den «Sudelheften» publiziertes) Tagebuch notiert: «Ich arbeite einerseits am Funktionieren der Zivilisation, andrerseits unterhalte ich die Leute mit Liedern», so führt dies mitten hinein in die damalige Arbeit an seiner Habilitationsschrift «Die pluralistische Staatstheorie», aber auch zum Thema des Liedes. Die eigentlichen Kulturleistungen der Menschheit seien allesamt auf Hemmungen zurückzuführen: Man denkt unwillkürlich an Sigmund Freuds «Unbehagen in der Kultur», doch noch näherliegt, dass Matter durch Norbert Elias’ soziologisches Werk «Über den Prozess der Zivilisation» angeregt wurde, das 1939 erstmals veröffentlicht worden war und 1969 in erweiterter Neuausgabe im Berner Francke Verlag erschien. Darin entwickelt und belegt Elias die Theorie, wonach der Zivilisationsprozess insbesondere zwischen Mittelalter und Neuzeit ein Prozess zunehmender Triebkontrolle sei, verbunden unter anderem mit Gefühlen von Scham und Peinlichkeit. Auch wenn die Allgemeingültigkeit von Elias’ Theorie heute umstritten ist, bleibt mit Mani Matter doch zu hoffen: «Dass si Hemmige hei.»

Mani Matter, eigentlich Hanspeter Matter (1936–1972), ist auch 50 Jahre nach seinem frühen Unfalltod der wohl bekannteste Schweizer Mundart-Liedermacher. Aus dem Nachlass wurden neben seiner staatsrechtlichen Habilitationsschrift u.a. 2016 philosophische und poetische Texte unter dem Titel «Was kann einer allein gegen Zen Buddhisten» im Zytglogge-Verlag publiziert.

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Letzte Änderung 29.12.2021

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