Schokolade und Spitzenhöschen

Robert Walsers Briefe an Frieda Mermet werden erst mit der neuen Briefausgabe in ihrer ganzen erotischen Bandbreite lesbar.

Von Ulrich Weber

Mehrere Briefe von Robert Walser an Frieda Mermet
Robert Walsers Briefe an Frieda Mermet.
© NB, Simon Schmid

Es gab eine Zeit, da waren Briefe die Hauptform der Kommunikation für räumlich voneinander entfernte Menschen, bevor das Telefon seinen Siegeszug antrat, in jener düster-fernen Zeit, als man noch nicht verkabelt und en ligne war.

Briefe sind Botenstoffe, die Menschen über die Distanz hinweg in eine flirrende Beziehung bringen und die Worte mit Schriftbild, Papiersorte, Illustrationen und anderen Attributen der postalischen Mitteilung verstärken und nuancieren. Kaum einer hat die Vielfalt dieser Ausdrucksmittel so subtil und variantenreich beherrscht wie Robert Walser, dem die Briefform auch eine adäquate Distanz für sein nicht unkompliziertes Verhältnis zum anderen Geschlecht gab.

Walser hat den Brief als reichen Lustgarten der Sprache und Schrift kultiviert: Über Jahrzehnte unterhielt er eine Brief-Freundschaft mit Frieda Mermet. Sie war alleinstehende Mutter und arbeitete als Wäscherin und Glätterin in der psychiatrischen Klinik Bellelay, wo Walsers Schwester Lisa die Lehrerin der Angestellten-Kinder war.

Eigentlich war es eine Paket-Freundschaft und die Briefe Begleitschreiben. Frieda Mermet schickte Walser Fresspäckli, die er nicht nur während seiner Aktivdiensteinsätze als Soldat 1914–1918 schätzte. Er schickte ihr im Gegenzug Prosastückli zum Lesen und Socken zum Flicken. Zugleich umwarb er sie in den Briefen mit wenig inhaltlicher Information, mal in vollendeter ritterlicher Höflichkeit, mit schwungvoller Zierschrift, dann wieder die zärtlich-frechen Inhalte in dichtem Gekritzel verbergend, mit Witz und Spiel. Oder mit ausgeschnittenen und aufgeklebten Karikaturen von Honoré Daumier.

Den Genuss der Lindt-Schokolade, die sie ihm geschickt hatte, verdankte er postwendend wortreich auf dem Schokolade-Papier. Gelegentlich markierte er auch kühl und sachlich Distanz. Vor allem in den ersten Jahren jedoch werden in dieser platonischen Brieffreundschaft auch frech die Grenzen zur Briefliebschaft überschritten: Forsch geht Walser seiner Freundin wortwörtlich an die Wäsche, wenn er etwa von ihren «Höschen» schreibt, «die den Blicken stets doch so zart und so sorgfältig verborgen gehalten werden».

Entsprechend zurückhaltend war Frieda Mermet, als sie Mitte der 1960er Jahre, zehn Jahre nach Walsers Tod, diese Briefe der literarischen Öffentlichkeit preisgab. Ihrem Wunsch, einige der 183 Briefe vorerst nicht zu drucken, darunter der oben zitierte, trugen die Herausgeber der ersten, 1975 erschienenen Briefausgabe Rechnung. Damit gerieten diese ungedruckten Briefe in Vergessenheit, obwohl sie weiterhin im Walser-Archiv (und nun seit Jahren als Depositum im Schweizerischen Literaturarchiv) öffentlich zugänglich waren – geschützt auch durch die Sütterlinschrift, die aus der konventionellen Schrift der Zeit heute zur mühsam zu entziffernden Geheimschrift mutiert ist.

Erst heute, in der soeben erschienenen dreibändigen «Berner» Briefausgabe sind wirklich alle Mermet-Briefe als transkribierter und edierter Text lesbar, zusammen mit unzähligen weiteren neu publizierten Briefen, die in der Zwischenzeit akribisch gesammelt wurden. Auch wenn Walsers Briefwerk, verglichen mit Brief-Vielschreibern wie Rainer Maria Rilke oder Hermann Hesse, nach wie vor schmal bleibt, bedeutet die editorische Auswertung der vielfältigen Archivfunde doch einen Riesensprung bei einem Autor, bei dem die Liebhaber sich über jedes Textchen beugen und sich am zierlichen, zugleich hinterhältigen und abgründigen Spiel der Worte und Klänge delektieren.

Schokolade und Spitzenhöschen (PDF, 487 kB, 29.10.2018)Der Bund, Mittwoch, 17. Oktober 2018

Eine Ausstellung mit Briefen Walsers wird am 21.10. im Robert Walser-Zentrum eröffnet.

Robert Walser: Briefe, 3 Bde., Hg. von Peter Stocker und Bernhard Echte, Suhrkamp.

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Letzte Änderung 29.10.2018

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