Pokal und Poesie

Was suchen barocke Trophäen in Donata Berras Archiv?

Von Annetta Ganzoni

Die Titelseite von «Lo sport illustrato» mit der Frage «Chi è Donata Berra?» und die zwei imposanten Pokale, die Donata Berra beim nationalen italienischen Wettkampf in Messina 1963 gewonnen hat.
Diese beiden Pokale gewann Donata Berra mit ihrem Sieg im nationalen italienischen Wettkampf in Messina im Frühling 1963.
© Simon Schmid, NB

Ein erstaunlicher Fund im Archiv einer raffinierten Dichterin und Übersetzerin: Eine kleine Zeitungsdokumentation, eine Schachtel mit Medaillen, einige Wimpel und zwei grossartige Pokale bezeugen das Vorleben von Donata Berra als Kunstturnerin der italienischen Nationalmannschaft.

«Chi è Donata Berra?», so titelt «Lo Sport illustrato» 1965 neben einem Foto, das die junge Sportlerin im perfekten Sprung über das Pferd zeigt. Während der harten Trainingsjahre der Gymnasialzeit wie der Erfolgswelle der Wettkämpfe in den Regionen Italiens und im «azzurren» Nationalmannschaftstrikot in Frankreich, Spanien und Jugoslawien – Donata Berra liess auch Journalisten nicht im Zweifel darüber, dass das Kunstturnen nur ein Auftakt war für ihre eigentliche berufliche Laufbahn. Und brach eine vielversprechende Karriere ab, die ihr mehr abverlangte, als es ihre Interessen für Literatur und Musik zu liessen.

Dennoch, ihre Trophäen nahm die Mailänderin Berra mit in ihre Wahlheimat Bern. Zeitweilig fast vergessen tauchten sie bei der Materialzusammenstellung für das Schweizerische Literaturarchiv wieder auf. Besonders auffällig sind die beiden leuchtenden Pokale des nationalen Kontests von 1963 in Messina – Stellvertreter für ein Training, worauf sich auch Berras Schreiben abstützt. Denn Bewegungspräzision auf dem Schwebebalken und poetische Treffsicherheit haben einiges gemeinsam. «Ich kannte den Rhythmus und war mir der Schönheit einer Geste bewusst», sagt Berra heute. So wie antrainierte Figuren am Stufenbarren körperlich verinnerlicht sind, so entstünden Gedichte aus der Intuition und nicht aus dem Kopf, der bei diesem Prozess eher störe.

Auch Dichten geht aus Vorbereitungen hervor, aus den zahllosen Lektüren etwa, die in Berras Versen ihre Splitter hinterlassen. Durch die Leseübung entstehen Erwartungen an rhythmische und akustischen Abläufe. Rhythmisches Gefühl helfe, das treffende Wort in eine Lücke zu setzen, das sich nicht nur in der Bedeutung, sondern auch im Takt dem Versgefüge einpasse. So wie nach einer bestimmten Anzahl Laufschritte eine Figur folgen müsse, so störe die Überlänge eines Satzes den Ablauf, ein zu schriller Laut die Klangfarbe der Strophe. Ein Rhythmuswechsel andererseits könne auf einen Wechsel im Fokus hinweisen. Im folgenden Gedicht unterbricht das Stakkato des sachlichen Frauenschritts jäh die idyllisierende Bergansicht der Anfangsstrophe:

Vedute bernesi II

E dopo il ponte
s’aprono a miglia i piani
su fino a nevi azzurre, fino a lontane
cime ineguali, digradanti
in cembri, larici, laghi, a eco:
per perdersi poi, lasciare
noi, qui, fuori misura:

ma sopra passa un po’ di fretta Rosa
che porta la sua borsa della spesa.

 

Berner Ansichten II

Doch hinter der Brücke
öffnen sich Meilen
von Schichten, bis zum aufblitzenden
Schnee, zu den
in Kiefern, Lärchen und Seen
herabsteigenden Gipfeln, als wär alles Echo:
um sich dann zu verlieren, uns hier
ohne Ausmass zu lassen.

Allein: mit ihrer Einkaufstasche schreitet
nun Rosa eilig über sie hinweg.
(Übersetzt von Christoph Ferber)

Weiterhin nimmt Donata Berra Herausforderungen an – und bringt hochkarätige Auszeichnungen nach Hause: 2018 war es der deutsch-italienische Preis für die literarische Übersetzung des Goethe-Instituts in Rom und Berlin für ihre Übertragung von Friedrich Dürrenmatts «La guerra invernale nel Tibet» (Adelphi, 2017).

 

Nach dem Studium der Literatur- und Musikgeschichte zog die Mailänderin Donata Berra 1975 nach Bern, wo sie bis zur Pensionierung hauptberuflich als Dozentin für italienische Sprache und Literatur an der Universität und an der Pädagogischen Hochschule tätig war. Ihre Gedichte publizierte sie in Zeitschriften und mehreren Sammlungen, ihre Übersetzungen aus dem Deutschen werden in Verlagshäusern des Tessins und Italiens aufgelegt.

Am 6. Dezember spricht Donata Berra am Convegno internazionale in der Nationalbibliothek zum Werk von Giovanni Orelli und ihren Austausch mit dem vielseitigen Tessiner Schriftsteller.

Das zitierte Gedicht stammt aus Vedute bernesi (alla chiara fonte, 2017), in Vorbereitung ist Maddalena, eine zweisprachige Gedichtanthologie mit Übertragungen ins Deutsche von Christoph Ferber (Limmat Verlag, Frühjahr 2019).

Pokal und Poesie (PDF, 360 kB, 06.12.2018)Der Bund, Montag, 3. Dezember 2018

Letzte Änderung 06.12.2018

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