Hackenfratzers «Anästhetische Gedanken»
von Magnus Wieland
Für alle Freunde des Kuriosen hier eine besondere Rarität – und eine verrückte Geschichte dazu.
Hackenfratzer? Professor Georg Ludwig Hackenfratzer? Nie gehört? Nein? Kein Wunder: Hackenfratzer zählt zu den global wohl apokryphsten Autoren überhaupt. Er selbst nannte sich der «im Allgemeinen unbekannte Dichter Hackenfratzer». Kein Bibliothekskatalog verzeichnet ihn mehr - doch das war einmal anders. Heute weist lediglich noch ein Eintrag im International Who's Who in Poetry von 1974 auf Hackenfratzers frühere Existenz hin. Dort findet sich unter dem Buchstaben H der Eintrag: «HACKENFRATZER, (Prof.) Georg Ludwig, see HARVEY, William Journeaux.» Ein Pseudonym also. Und unter HARVEY selbst erfährt man: Geboren am 26. April 1938 in den USA, Studium in Freiburg im Breisgau, Abschluss an der University of Texas, dort auch 1972 Promotion zu Franz Kafka and Friedrich Dürrenmatt. A comparison of narrative techniques and thematic approaches. Die drei Jahre später publizierte Arbeit ist sogar in der Schweizerischen Nationalbibliothek auf Mikrofilm einsehbar (Signatur: N 136513). Heute jedoch hat Valerie Journeaux Harvey Powell einen Lehrstuhl für Computer and Information Systems an einer amerikanischen Universität inne - und das ist beileibe nicht der einzige überraschende Wandel in dieser Vita.
Während dem Studium jedenfalls nahm Harvey zeitweilig die (Schreib-)Identität von Georg Ludwig Hackenfratzer an, in dessen Namen einige parodistische Texte entstanden. Und das nicht grundlos: «Um die Germanistik ‹ernst› zu nehmen, mußte ich doch eine gewisse Ironie ihr gegenüber erlangen.» Das steht in einem Brief aus dem Jahr 1969, der an niemand Geringeren als an den behandelten Autor Friedrich Dürrenmatt selbst gerichtet ist. Im Brief werden neben den «Anästhetischen Gedanken» noch weitere Nonsense-Texte erwähnt wie etwa die Schrift «Über den frühexzessivistischen Dichter J. G. van Staddraheimelkeslery» oder «Das reine Nachschlagewerk». Nichts davon ist heute überliefert, denn alle diese ‹Werke› fielen einem grausamen biblioklastischen Akt zum Opfer. Und das kam so: Während dem Studium in Austin/Texas wurde mit Hilfe einiger Kommilitonen, die schon länger am Kult um Hackenfratzer partizipierten, ein selbstgebasteltes «fake book» von Hackenfratzers Sämtlichen Werken (hrsg. vom GalgenVerlag aus Ebnet an der Dreisam) in die Universitätsbibliothek geschmuggelt, akribisch abgestempelt, mit falschen Ausleihdaten versehen, sorgfältig im Magazin unter einer erfundenen Signatur verstaut und dazu heimlich eine Katalogkarte ausgefüllt. Fortan weilte es unbemerkt unter dem offiziellen Buchbestand. Kurz: Wir haben es hier mit einem Meisterstreich unter den «library hoaxes» in der Bibliotheksgeschichte zu tun. Die Fälschung war so perfekt, dass die Titel zeitweilig sogar im National Union Catalog (NUC) auftauchte, was der ganzen Aktion schliesslich zum Verhängnis wurde. Als das Buch nämlich über den interbibliothekarischen Leihverkehr angefordert wurde, entdeckte ein Bibliotheksmitarbeiter die Fälschung - und der ganze Schwindel flog auf. Ganz zum Ärger des technischen Leiters der Universität, der das Buch auch kurzerhand durch den Shredder drehte. Aus, vorbei. Hackenfratzer war Geschichte.
Nur einem Zufall ist es deshalb zu verdanken, dass ein einziges hektographiertes Exemplar der «Anästhetischen Gedanken» heute doch noch überliefert und unlängst wieder entdeckt worden ist - und zwar im Archiv des Arche Verlags (Zürich), dessen Bestand sich seit 2011 im Schweizerischen Literaturarchiv befindet. Jemand aus der Gruppe der Hackenfratzer-Conspiracy muss es schon früher - in einem Briefumschlag der East Texas State University, datiert auf den 2. April 1968 - dem Verlag zuhanden des damaligen Hausautors Friedrich Dürrenmatt zugestellt haben. Ob dieser es je gelesen hat, ist zu bezweifeln. Vielleicht hätte er aber seine Freude an der kleinen Satire gefunden, die auf einem Wortspiel zwischen dem medizinischen Begriff für Empfindungslosigkeit (Anästhesie) und der Negation von Schönheit (An-Ästhetik) beruht. Wer also immer schon die «Sinnlosigkeit» der modernen Literatur ergründen wollte, dem sei hier die erstmals publizierte «Einführung in die Anästhetik» dringend empfohlen.
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