«Was ist ein Historiker?»
Von Ursula Ruch
MEIENBERGS AGENDA 1963: Woche 11, Eintrag im Notizenfeld unten rechts: «Was ist ein Historiker?». Und 39 Wochen später: «a history of Switzerland by Bonjour requested reading».
BONJOUR: Zehn Jahre nach den schriftlichen Einträgen im Kalender fällt Meienberg bei der Lektüre von Edgar Bonjours Geschichte der schweizerischen Neutralität auf, dass in diesem Bericht «das Thema Landesverrat oberflächlich behandelt wurde».
LANDESVERRAT: Dafür sah das Militärstrafgesetz in Kriegszeiten die Todesstrafe vor. Für zivile Straftaten wurde die Todesstrafe 1942 aufgehoben - erst fünfzig Jahre später, 1992, folgte die Abschaffung im Militärstrafrecht.
REPORTAGE: Meienberg hat sein Thema, Schweizer Landesverräter während des Zweiten Weltkriegs, gefunden. Er studiert Akten, liest Publikationen, Protokolle. Schreibt Briefe. Geht vor Ort, befragt die Leute: oral history als unverzichtbarer Bestandteil der Berichterstattung. Es entsteht eine erste kürzere Fassung, die im August 1973 als zweiteiliger Beitrag im Tages-Anzeiger-Magazin veröffentlicht wird. Ein Jahr später ist die 80-seitige Reportage Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. druckreif (1974 in Meienbergs Reportagen aus der Schweiz bei Luchterhand erstmals veröffentlicht): Porträt eines jungen, lebenshungrigen Mannes, Ernst Schrämli, der 1942 für wenig Geld einem deutschen Spion vier Artillerie- und eine Panzergranate beschafft hatte. Wegen Landesverrats erschossen wurde. Porträt auch einer Stadt, Meienbergs Herkunftsort St. Gallen, der dortigen wirtschaftlichen Verhältnisse und der damaligen gesellschaftlichen Realitäten. Meienberg lässt drittens einfliessen, wie sich die Spurensuche in Archiven und im Kontakt mit Zeitzeugen ausnimmt. Eine Geschichtslektion im Spannungsfeld zwischen den Mächtigen und den Macht- und Mittellosen.
LUMPENPROLETARIER UND STÜTZEN DER GESELLSCHAFT. In der Reportage geht es nicht in erster Linie um die Frage nach der Legitimation der Todesstrafe. Vielmehr darum, über wen die Todesstrafe verhängt wurde. Unterschiedliche Massstäbe für unterschiedliche Akteure? Geistiger Landesverrat vs. begangener Landesverrat?
SENSIBEL: «das Wort ‹sensibel› kommt im Bericht von Rupp 1mal vor: als Adjektiv für eine Maschinenpistole». Diese Notiz befindet sich zwischen zahlreichen anderen, entstanden während der Beschäftigung mit Ernst S. Der Journalist, Historiker und Lyriker Meienberg (1940-1993) hat feine Antennen für das Paradoxe, das Absurde. Und für Missverhältnisse.
SUBJEKTIVITÄT: Polemisch, einseitig, virtuos, unverkennbar sind Meienbergs Texte. Auch der Film, den Richard Dindo 1976 zusammen mit dem Autor über Ernst S. machte, wurde als «parteiisch für das Volk» und bewusst subjektiv rezipiert.
MEIENBERGS FICHE: Der endgültige Entscheid des Bundesrates, diesem in Deutschland mit einem Sonderpreis bedachten Film eine Qualitätsprämie (etwa 35000 Franken) zu verweigern, findet seinen Niederschlag sogar in Meienbergs Fiche. Sie gehört zum fragmentarisch erhaltenem Nachlass, der seit 1995 im SLA liegt.
Quellennachweis: Aus dem Nachlass Meienbergs: Agenda 1963/64 (C-1/6) Listen, Notizen, Briefe und weitere Dokumente zum Thema Landesverrat (A-1-a/5 bis A-1-a/8), Tages-Anzeiger-Magazine Nr. 32/33 (D-1/5), Interview mit Meienberg/Dindo über den Film (D-1/5), Kopien von Meienbergs Fiche (C-1/15)
Informations complémentaires
Ausstellung Warum Meienberg? Pourquoi Meienberg?
Kulturraum am Klosterplatz, St.Gallen
16. August bis 29. September 2013
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