Fossiles Schutzbild

Im Nachlass des grossen Schweizer Dialektologen Jost Winteler befindet sich auch ein kleines Buch mit einem kunstvollen Einband. "Handle with Care!" will es sagen.

Jost Winteler Muschelbuch
Das „Muschelbuch“ im Nachlass Jost Winteler. Foto Simon Schmid, NB

Von Lukas Dettwiler

Nein, dieses Buch lag nie am Meeresboden. Zu gut ist es erhalten, zu schmuckvoll sind die Konchylien (Kalkschalen von Muscheln und Schnecken) über die Buchdecke verteilt. Ist es Buch oder Etui? Es ist beides und vieles mehr. Skulptur, Mosaik, Poesiealbum sowie Kuriosum. Die Tücke des Objekts lässt sich an ihm studieren.

Das „Muschelbuch“ ist ein kleines Fotoalbum mit den Massen 13x10 cm, zur Seite mit einer Spange versehen. Die 20 Fotografien zeigen Porträts, Landschaften, Gebäude – Zeugnisse aus Wintelers Leben. Wie und wann es in seinen Nachlass kam, wer es gestaltet hat, ist nicht überliefert. Der Ungewissheiten sind viele, ähnlich einem Schatz, frisch aus dem Meer gehoben. Existiert eine versunkene Tradition solcher Buchobjekte? Unbestritten ist: Das Muschelbuch ist nicht gemacht, um es wie andere Alben in ein Regal zu stellen. Eher ist es ein Blickfang, ein Deut auf die Bilder, die es verwahrt.

Ein Buch hat zwei Deckel, eine Muschel zwei Schalen. Ein Scharnier oder Rücken zwischen den beiden Hälften fungiert zum Auf- und Zuklappen. Die Korrespondenz ist unübersehbar: Das Muschelbuch schützt seine Denkmäler im Innern zwiefach, physisch wie metaphorisch. Und wie der im Muschelbuch abgebildete Mensch einst atmete, indes einen unbewegt anblickt, logierte darin vormals ein Weichtier. Das Muschelbild auf dem Buchdeckel erweist sich als fein komponiertes Vorbild wie Sinnbild. Seine Fossilien sind irgendeinmal an einem Meeresstrand angeschwemmt. Die uferwärts beheimateten Strandschnecken bilden den ausgefransten Rahmen um die im tieferen Wasser lebenden Herz-, Venus-, Pfeffer- und Plattmuscheln, Stachel- und Hornschnecken. Aus Plattmuscheln geformt ist zentral eine „Rose“ erkennbar. Rechts davon ragt, aufgehoben zwischen dem geöffnet daliegenden Pelikanfuss, das Gehäuse einer Turmschnecke obenauf, als wäre sie an diesem Muschelstrand aufgetaucht, dabei ist sie, wie alle anderen, von Menschenhand dort eingefügt worden.

Aber hatte sich Winteler nicht mit Sprache befasst, insbesondere mit Dialekten? Stimmt. Seine Dissertation Die Kerenzer Mundart in ihren Grundzügen dargestellt, 1876 erschienen, hatte Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Akribisch hatte Winteler als erster mit seiner Lautschrift die Phonetik einer Mundart aufgezeichnet. Seine Notate hat er direkt auf Papier festgehalten, Tonbandaufnahmen gab es noch keine – Ohrmuscheln waren seine Mikrofone. Nach dieser Publikation stellte sich Winteler zeitlebens in den Schuldienst, um den Lebensunterhalt für sich und die Familie mit den sieben Kindern zu verdienen. Am längsten als „Professor“ für Latein, Geschichte und Religionswissenschaft an der Kantonsschule Aarau, wo Albert Einstein nicht nur einer seiner Schüler, sondern zuhause zugleich sein Pflegesohn war.

Das Geheimnis um Wintelers Muschelbuch scheint etwas gelüftet und bleibt doch bestehen. Es hebt sich so ab von den übrigen Materialien in seinem Nachlass, der umfangreichen Korrespondenz und seinen Dichtungen, die sonst alle übersichtlich geordnet in einem logischen Kontext stehen.

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Jost Winteler, geb. 1846 in Filzbach GL, starb 1929 in Wattwil TG. Dialektologe, Lehrer, Schriftsteller, Ornithologe.

Fossiles Schutzbild (PDF, 184 kB, 09.01.2018)Der kleine Bund, Mittwoch, 27. Dezember 2017

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Last modification 03.07.2019

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