Aufforderung zum Spiel

Wie Eugen Gomringers Gedicht «Avenidas» in die Künstlerzeitschrift «Spirale» gelangt und die Anfänge der Konkreten Poesie ankündigt. Eine Ursprungserzählung aus Bern.

Von Irmgard Wirtz

Die erste Ausgabe der Berner Zeitschrift «Spirale» und Gomringers beanstandetes Gedicht.
Die erste Ausgabe der Berner Zeitschrift «Spirale» und Gomringers beanstandetes Gedicht.
© Foto: BN, Simon Schmid

Das Gedicht Avenidas auf der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Schule hat seit Monaten eine mediale Aufmerksamkeit erhalten, die sich einer aus dem Ruder gelaufenen Debatte verdankt, für die keiner mehr verantwortlich sein möchte. Sie erhitzt nach wie vor die sozialen Medien mit tausenden von Beiträgen.

Entstanden ist Eugen Gomringers Gedicht in seiner Berner Studienzeit. An der Aare suchte er Gelegenheit, seine spanische Muttersprache zu sprechen, und traf so auf den Antiquar Jaime Romagosa. Lange bevor dieser sein stadtbekanntes Antiquariat 1970 am Hirschengraben eröffnete, begann Romagosa im Obergeschoss des Cafés Barcelona seines Vaters an der Aarbergergasse, mit spanischen Büchern zu handeln.

Gomringer besuchte, wie er schelmisch erzählt, das Barcelona, und darauf entstand das Gedicht Ciudad. Es verdankt sich also weder der Anschauung noch dem Erlebnis, sondern der Suche nach der verlorenen Muttersprache, dem Wort und der Imagination.

Das Gedicht beruht auf sechs Worten avenidas, flores, mujeres, admirador, y, un und einer Überschrift, die Worte sind isoliert und in unterschiedlichen Konstellationen aufeinander bezogen. Es arbeitet mit Laut und Bild, die Worte beziehen sich nicht unmittelbar auf eine Wirklichkeit ausserhalb der Sprache. Und sie bilden diese auch nicht ab. Hiermit hat Eugen Gomringer ein neues Verfahren für die Dichtung der Nachkriegsjahre gefunden, die Konstellation, die er später Konkrete Dichtung nennen wird. Avenidas sind der Ursprung der neuen Dichtung, wie sie später auch Kurt Marti und Walter Vogt schreiben.

Mit Marcel Wyss und Dieter Roth gründet Eugen Gomringer 1953 die Künstlerzeitschrift Spirale, das erste Heft mit gelbem Umschlag im Grossformat (vgl. Bild) setzt mit Hans Arp ein: «Die Schönheit versank nicht unter den Trümmern der Jahrhunderte, / sie lebt, aber sie zeigt sich uns nur verhüllt, / sie erregt uns, aber sie enthüllt sich uns nie.» Die Zeitschrift Spirale sucht die ästhetische Debatte und verortet sich international, zwischen Kunst, Literatur und Kultur. Auf Arps Einleitung folgen Beiträge von Wassily Kandinsky und Paul Celan. Eugen Gomringers Beitrag ist die Erstpublikation seines Gedichts Ciudad. Es ist ebenso programmatisch für diese Zeitschrift wie für die konkrete Kunst. Ciudad (civitas, city) ist urban und öffentlich, kein privater Blick auf Strassen, Blumen, Frauen, sondern eine distanzierte Perspektive auf den öffentlichen Raum, auf das Geschehen der Strasse, die Frauen, die Blumen und einen Bewunderer. Die lyrische Stimme hat nicht teil, sie steht ausserhalb des Geschehens. Insofern passt das Gedicht in den öffentlichen Raum, nur fehlte auf der Berliner Fassade der Titel «Ciudad». Damit verschiebt sich der Blick, er wird privat.

Das Gedicht sagt weniger und leichzeitig mehr als die aktuelle Debatte, weil die Konstellation seiner Worte etaphorisch bleibt. Es ist zudem als ein ästhetisches Verfahren zu lesen, weil die Konstellationen zwischen Strassen, Frauen, Blumen und einem Bewunderer sich nicht auf irgendeine Aussage festlegen, sondern in der variablen Konstellation Denkräume und Assoziationsräume eröffnen. Wer diese zu Aussagen fixiert, missbraucht das Gedicht.

In der fünften Nummer der Zeitschrift Spirale folgt Gomringers Manifest zur neuen Dichtung: Vom Vers zur Konstellation. Zweck und Form einer neuen Dichtung und darin ist wiederum avenidas als exemplarisches Gedicht abgedruckt. Die neue Dichtung beruht auf Konzentration, Einfachheit. Memorierbarkeit, der Schlüsselbegriff für ihr Verfahren ist die Konstellation.

Die Konstellation ist eine Ordnung und ein Spielraum, sie verbindet ein mechanistisches mit einem intuitiven Prinzip. Sie ist mehrdeutig, offen und nicht festgelegt. Gomringer schliesst das Manifest mit den Worten «Die Konstellation ist eine Aufforderung.» – zum Spiel, zur Liebe, zur Kunst und zur Debatte bis heute.

Aufforderung zum Spiel (PDF, 168 kB, 02.05.2018)Der kleine Bund, Dienstag, 24. April 2018

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Last modification 02.05.2018

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