Walter Matthias Diggelmann

Der Schriftsteller ohne Hausierpatent Mit seinem Roman „Die Hinterlassenschaft“ forderte Walter Matthias Diggelmann in den 60er-Jahren Geistige Landesverteidiger und Kalte Krieger heraus.

Von Margit Gigerl

Ein leinengebundenes Satteldach ist nicht eben die klassische Form eines Buches, selbst wenn darunter an die dreihundert maschinengeschriebene Seiten versammelt sind. Obschon die 36 Bögen fein säuberlich von Hand mit Fadenheftung eingebunden sind, ist das Typoskript keine dienliche Druckvorlage: unregelmässige, ja chaotische Seitenzählung, mit Bleistift teilweise nochmals neu nummerierte Teile; zahlreiche handschriftliche Korrekturen, die sich über den abgetippten Text lagern, dazwischen eingeklebte Streifen und ganze Absätze, die deutlich zu erkennen von anderen Druckvorlagen stammen.

Trotzdem wurde das Konvolut, welches die goldenen Lettern auf dem Buchrücken als Walter Matthias Diggelmanns Roman „Die Hinterlassenschaft" ausweisen, mit einem stattlichen Einband versehen. Ob vom Autor selbst ist nicht mehr eindeutig zu eruieren. Er hatte das Typoskript eingetauscht gegen ein Bild des - für seine skripturalen Objekte und Collagen bekannten - Malers und Grafikers Werner Hartmann, aus dessen Nachlass es in Diggelmanns Archiv rückgeführt werden konnte.

Der „erfundene Tatsachenbericht" - so der Autor in der Vorbemerkung - verhandelt mit der persönlichen Geschichte des jungen David Boller alias Fenigstein zugleich die „Hinterlassenschaft" einer unbewältigten Schweizer Vergangenheit zur Zeit des Nationalsozialismus und die Gegenwart der kalten Nachkriegszeit. In die eigentliche Erzählung montiert Walter Matthias Diggelmann ganze Zeitungsartikel aus den 30er- bis 50er-Jahren und Ausschnitte aus historischen Quellen wie dem sogenannten „Ludwig-Bericht" (1957), der im Auftrag des Bundesrates die „Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart" untersucht hatte und in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt blieb. In einer Verschränkung der verschiedenen historischen Ebenen sollte in der „Hinterlassenschaft" der Nachweis erbracht werden, dass die „antikommunistischen Brandstifter von heute ... weitgehend die faschistischen Brandstifter des Antisemitismus der dreissiger Jahre und die sogenannten ‘Vaterländischen' (lies Anpasser) der vierziger Jahre" waren.

Das Collagieren des Materials wie das physische Überschreiben des Texts dokumentieren die literarische Montagetechnik, mit der Diggelmanns Roman im Kontext der dokumentarischen Literatur der 60er-Jahre zu verorten ist. Bei seiner Publikation im Herbst 1965 stellt die „Hinterlassenschaft" ein nicht nur formal innovatives, sondern auch für die politische Landschaft der Schweiz mutiges Werk dar. Lange vor Häslers „Das Boot ist voll" oder Meienbergs „Erschiessung des Landesverräters Ernst S." lancierte Diggelmann als einer der Ersten die Frage nach der öffentlichen Rolle und Funktion von Literatur in der Schweiz der 60er-Jahre neu. Es folgten üble Diffamierungen des Autors und Diskussionen über die „littérature engagée" und schliesslich eine markante Zäsur im sogenannten „Zürcher Literaturstreit" Ende 1966 mit einer Art Pauschaldiskreditierung der Gegenwartsliteratur.

Einen gewitzten Beitrag lieferte auch die Berner Kantonspolizei, als Diggelmann am 20. Oktober 1965 im Keller der legendären „Junkere 37" auftreten sollte. Kurzfristig liess man die Organisatoren wissen, dass dies unter das „umherziehende Gewerbe" falle und der Autor somit ein sogenanntes „Hausierpatent" zu lösen habe. Ein „netter Versuch", der ihm die Publicity einer Blick-Story, einer Fernsehdiskussion und sogar einen Artikel im deutschen Spiegel als „Umherziehende Person" einbrachte.

Zum Autor
Walter Matthias Diggelmann (1927-1979) gilt mit seinen sozialkritischen Romane und Erzählungen wie etwa „Das Verhör des Harry Wind" (1962), „Die Hinterlassenschaft" (1965), „Freispruch für Isidor Ruge" (1969) oder „Die Vergnügungsfahrt" (1969) als einer der engagiertesten Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts.

Literaturhinweis
Walter Matthias Diggelmann: Die Hinterlassenschaft. München: Piper, 1965. (Lieferbar als: Die Hinterlassenschaft. Hrsg. u. mit e. Vorw. vers. v. Klara Obermüller. Einf. v. Hans U. Jost. Nachw. v. Bernhard Wenger. Werkausgabe Bd. 4. Zürich: Edition 8, 2003.)

Veranstaltungshinweise
4. bis 18. April: Kabinett-Ausstellung Neue Öffentlichkeit und Literatur, Nationalbibliothek.
18. April 2016, 18.00: Ringvorlesung «Avantgarden im Archiv». Dr. Beatrice von Matt: Nachkriegsmoderne. Formen des neuen Erzählens in der deutschsprachigen Schweiz von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren. Schweizerische Nationalbibliothek, Saal Dürrenmatt. Mit einer Führung durch die Ausstellung von Dr. Corinna Jäger-Trees und Margit Gigerl.

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