Von Gänsen und Stieren
Von Nina Debrunner
Mariella Mehr füttert Gänse und Hühner auf der Alp Rueun oberhalb von Ilanz. Mehrere Sommer verbrachte sie dort in der Abgeschiedenheit des Bündner Oberlandes, versorgte die Tiere und schrieb. Im Sommer 1984 bekam sie Besuch vom WoZ-Journalisten Fredi Lerch, der einen Artikel über ihr neu erschienenes Buch zu schreiben hatte: Das Licht der Frau. Er fotografierte sie - vor dem Haus, mit den Tieren, beim Abwasch - und sie unterhielten sich über ihr Buch und über Macht. Die Macht von Männern und Frauen, die Macht über Stiere, die Macht zu töten, die Macht über Gänse. Macht zu haben sei ein unglaublich gutes Gefühl. Die eigenen Minderwertigkeitsgefühle und Unzulänglichkeiten lassen sich dadurch einfach verdrängen. Sie erlebe das selbst mit den Gänsen: Wenn sie sie beim Füttern am Abend nur fünf Minuten hinhalte und zuschaue, wie sie scharren und betteln - das sei Macht. Hinter diesem harmlosen Beispiel steckt das Lebensthema der Autorin: Macht und Ohnmacht als gegensätzliche Keimzellen der Gewalt.
Ausgegangen war das Gespräch vom Thema ihres neusten Buches: Was bewegt Frauen dazu, Stierkämpferinnen zu werden und Stiere zu töten? Mehrere Monate hatte Mariella Mehr in Madrid verbracht, um dieser Frage nachzugehen. Vom ersten Stierkampf, den sie sah, war sie derart erschüttert, dass sie heulte, schrie und das Publikum beschimpfte. Dass Männer töten, war schlimm genug, aber warum mussten Frauen es ihnen gleichtun? Im Archiv findet sich eine Mappe mit sämtlichen Unterlagen zu ihren Recherchen. Plakate von Stierkämpfen, Eintrittskarten, Fotos der Stierkämpferinnen mit freundschaftlichen Widmungen und Notizen mit Gedankensplittern. «Warum muss Erika töten? Falsch verstandene Befreiung von Konventionen. Falsch verstandene Emanzipation. Das Privileg der Männer, zu töten und zu quälen, übernehmen.» Das Bild der stolzen «Novillera» mit der Widmung «Para Mariella con muchisimo cariño y afecto» zeigt jene Maria José, an deren Beispiel Mariella Mehr die verstörende Doppelgesichtigkeit der Stierkämpferinnen aufzeigt: «Während der ‹Stunde der Wahrheit›, dem Töten, zeigen sie dasselbe arrogante Gesicht und denselben überheblich gekrümmten Rücken [wie ihre männlichen Kollegen], und ich hätte dieser hübschen Mari José in das Gesicht spucken können dafür. Aber sie schenkte mir scheu ein Foto mit Autogramm und schaute mich eine halbe Stunde nach ihrem geglückten Todesstoss an wie ein Reh den Schützen.»
Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biographie der Gewalt hat Mariella Mehr ein Werk geschaffen, das mit seiner Thematisierung der Gewalt, ihren Bedingungen und Auswirkungen, in der Schweizer Literatur einzigartig dasteht.
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