Christian Hallers fotografischer Blick
«Licht, so wunderbar leicht wie flüssiger Äther, eine lautere Durchsichtigkeit, gesättigt von Strahlen, welche die kühle, dünne Luft zu einem gläsernen Körper werden ließen, der, umfasst von der Iris schneebedeckter, von rotem Felsgeäder durchzogener Bergmassive, sich in den Himmel wölbt, eine leuchtende Linse über der Ebene zwischen den Seen, in deren Wasser sich die Bläue spiegelt, die Berghänge und Spitzen sich abbilden, Arven wie hellgrüne Keile hinab ins Wasser stoßen - und Vater war herausgetreten aus dem blinden Fleck, der Fovea centralis ewiger Nacht, stand inmitten einer Wiese aus lauter Sehzellen, in Kniehosen und Wanderschuhen, eine Schirmmütze auf dem Kopf, ein festes, tailliertes Jackett über dem Hemd, die neue Brille vor den zerstochenen Augen, und sah, schaute, war erwacht in diese Landschaft, die jetzt nicht mehr Traum und doch traumhaft war, das Hochtal, so weit, durchflossen von schneeiger Luft, angefüllt von Helle, eine zum Himmel erhobene Schale, und er ging darin herum, sehsüchtig, lichtlustig, setzte die Schuhe sorgfältig auf und vermied die Anstrengung. W. schaute, und die Arven und Fichten, der Fels, die aufragenden Berghänge, die Spitzen und gleißenden Gletscher waren wie noch von keinem menschlichen Blick berührt, ohne Bezeichnung, ohne Namen, ein reines Sein, wovon er nicht satt werden konnte.»
Christian Haller: Das schwarze Eisen (München 2004), S. 168/169
Christian Haller arbeitet oft mit dem Medium Bild. Er hat einen unglaublich scharfen Blick und dazu die Gabe, das Gesehene in Text umzuwandeln; geschriebenes Bild und bildhafte Sprache vermischen sich darin.
Hier scheint es mir fast, als ob Haller selbst mit seinen aufmerksamen Augen durch diese Fotografie gewandert ist, um dann seinen Vater durch das Oberengadin wandern zu lassen - als ob Haller bei der Betrachtung des Lichtbildes dieselben optischen Empfindungen seinem Vater nach- und gleichzeitig vorerlebt hätte.
In Hallers Archiv befinden sich unzählige alte und neue Fotografien, und viele davon werden in seinen Texten offen oder verdeckt beschrieben. Ich vermute, auch Haller findet darin ein reines Sein, von dem er nicht satt werden kann, nämlich das Schauen, die schlichte Freude am Sehen und Betrachten.
Die hier abgebildete Fotografie befindet sich in einem Konvolut aus alten (um 1947 entstandenen) Abzügen aus dem Nachlass von Christian Hallers Vater. Das Archiv Christian Haller wird zur Zeit erschlossen und ist noch nicht zugänglich.
Micha Zollinger
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