Prix Lipp, 4.4.95
In seiner witzigen Dankesrede für den Prix littéraire Lipp, den Markus Werner 1995 erhalten hat, stellt der Autor die beiden Künste der Gastronomie und Poesie einander gegenüber und findet Unterscheidendes und Verbindendes sowohl bezüglich der Konsumierenden wie auch bezüglich der Erzeugenden in beiden Kunstgattungen. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist dabei die Vergänglichkeit, die beide in unterschiedlichen Masse auszeichnet: Literarische Produkte überleben manchmal eine ganze Saison, was von kulinarischen selten der Fall ist. Kreationen beider Künste können den Konsumenten schwer aufliegen, was aber nicht in beiden Fällen ein Qualitätsmerkmal zu sein braucht ...
Text der Rede
Meine Damen und Herren
Wenn ein Gastronomieunternehmen der Literatur unter die Arme greift, so ist das ein erfreuliches, aber deutungsbedürftiges Ereignis. Deutungsbedürftig darum, weil es einem ersten Blick kaum gelingen will, einen Zusammenhang zwischen Gastronomie und Poesie zu entdecken und eine Verbindung herzustellen zwischen den Erzeugnissen der Küche und jenen der Literatur. Es sei denn, man hätte den Scharfsinn, darauf hinzuweisen, dass es ohne Küche keine Bücher gäbe, ohne Nahrung keine Schreibkraft. Das ist zwar entwaffnend plausibel, trotzdem glaube ich nicht, dass dieser Zusammenhang für Anton Jaeger, den Gründer und Stifter des Prix Lipp, entscheidend war, denn mit der gleichen Argumentation hätte er auch einen Preis für Torschützen oder Höhlenforscher ins Leben rufen können, deren Leistungen ohne Nahrungszufuhr ja auch schwer denkbar sind.
Sobald wir einen zweiten und etwas sorgsameren Blick auf das Problem werfen und die beiden Fremdwörter 'Gastronomie' und 'Poesie' ins Deutsche übersetzen, wird uns bewusst, dass wir es mit zwei K ü n s t e n zu tun haben, nämlich mit der Kochkunst und mit der Dichtkunst, und selbstverständlich verweist der gemeinsame Oberbegriff auf Verwandtschaft. Verwandtschaft aber heisst Uebereinstimmung in wesentlichen Merkmalen. Tatsächlich finden wir zuerst einmal auf der Ebene der Erzeuger bemerkenswerte Parallelen. Was braucht ein Gastronom? Er braucht Fantasie und Geschmack, Einfühlungsvermögen und Geduld, kompositorisches Flair und Uebersicht. - Was braucht der Schriftsteller? - Eben. Eben das. Gastronomen und Poeten bedürfen also höchst ähnlicher Eigenschaften und Fähigkeiten, weshalb es nicht erstaunt, dass auch die Konsumenten der beiden unterschiedlichen Produkte höchst ähnliche Eigenschaften und Fähigkeiten aufweisen, sofern sie gute und bewusste Konsumenten sind. - Was braucht der gute Leser? Er braucht Empfänglichkeit, Bedächtigkeit, sensible, wache Sinne. - Was braucht der gute Esser bzw. Trinker? - Eben.
Angesichts dieser Uebereinstimmung liegt eine schwesterliche Liaison der beiden Künste nahe. Allein, es gibt auch Differenzen, aber Differenzen sind das Salz einer jeden Beziehung, man soll sie also nicht verschweigen. Ich nenne zwei, sie gründen beide in der Beschaffenheit des Hergestellten. Ein wichtiges Qualitätsmerkmal des kulinarischen Erzeugnisses besteht darin, dass es nach dem Verzehr nicht auf dem Magen liegt, während es umgekehrt für die Qualität eines literarischen Produktes spricht, wenn es dies tut. - Noch bedeutsamer aber ist der zweite Unterschied: Haben wir ein Buch verschlungen, so ist es nachher noch da[.] - Ungleiches gilt von einer Mahlzeit, weshalb man nicht darum herum kommt, die Kochkunst als die vergänglichste der Künste zu bezeichnen.
Es zeugt nun von der Reife der Gastronomie, dass sie der Poesie gegenüber trotzdem keine Eifersucht entwickelt und sich, statt in Melancholie zu verfallen, auf ihre Stärke besinnt. Gut, sagt die Kochkunst, meine Schöpfungen sind zwar eine Spur vergänglicher als die der Dichter, die manchmal sogar eine Saison überdauern, aber ich bin wenigstens und naturgemäss nicht brotlos. -
Es zeugt nun von der Noblesse der Gastronomie, dass sie auch nach dieser Feststellung nicht triumphierend mit den Töpfen klappert, sondern grossmütig nach dem erwähnten Brot greift und eine tüchtige Scheibe davon abschneidet. Und dafür danke ich herzlich.
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