Im Januar 2011: Matthias Zschokke

...bin ergriffen, überwältigt, sprachlos
Ein Notebook stand längst auf dem Tisch, doch schätzte der Autor die Dienste der guten alten Schreibmaschine im entscheidenden Moment mehr, denn: «Was da einmal geschrieben ist, bleibt stehen.» Das passte bis vor Kurzem, um Entwürfe zu verfassen; so entstand «Geh- und Stehhilfen». Die Schreibmaschine ist jetzt weg, den Computer meidet Matthias Zschokke zu Beginn weiterhin, bringt seine Gedanken lieber von Hand zu Papier, bevor sie, elektronisch unzählige Male überarbeitet, abgespeichert werden.
«Geh- und Stehhilfen» handelt vom Schreiben und vom Lesen, von möglichen Nachfolgern Cervantes', von illustren und (vor allem) von anderen Namen.
 

Geh- und Stehhilfen
Wer kam auf Homer und Horaz, wer auf Schiller und Büchner, wer auf Kafka? Welcher Tropf kommt auf die Idee, Thomas Mann und James Joyce auf einen Draht zu fädeln und sie zu einem Dichter-und-Denker-Kettchen zusammenzuknüpfen, das dann rauf- und runtergebetet werden kann? Was ist das für ein Gebilde aus Erkorenen, zusammenmontiert von unsicheren Oberstudienräten, die es nicht ertragen, wenn sie kein Oben und kein Unten, kein Gut und kein Schlecht kennen? Die eine Ordnung brauchen, und ist keine da, sich eine solche schaffen? Die uns ihr Konstrukt stolz vorführen, ihre Geh- und Stehhilfe: «Hier Meister Eckhart, dort Hölderlin, dazwischen lange Zeit finsterste Nacht, sehen Sie?» Sie erklären uns das wackelige Häuschen, welches sie errichteten, um ein Dach über dem Kopf zu haben und in der großen weiten Welt nicht so ausgesetzt und verlassen dazustehen. Sie greifen nach Virginia Woolf und decken sich zu mit ihr, schnappen nach Jean Paul und legen ihn sich um die Schultern, ziehen sich den Robert Walser über die Ohren, voller Angst, ob denn auch wirklich gesichert sei, dass die alle sie warmzuhalten vermöchten - so erbarmenswürdig blass, so zutiefst verschreckt ...

... Ich habe den Glauben an den Jahrhundertroman verloren. Nicht, dass es ihn nicht immer neu geben kann und gibt. Aber den Wunsch, ihn zu verfassen, den habe ich verloren. Ich hoffe zwar, es sitze auch heute noch irgendwo einer, der einen Don Quijote zu schreiben in der Lage ist. Das hoffe ich der Menschheit zuliebe. Doch ich habe kein Verlangen danach, diesen Roman im Entstehen zu wissen. Die Goethes machen sich gut auf ihren Podesten. Wir können uns glücklich schätzen, wenn wir in deren Büchern die eine oder andere schöne Zeile, den einen oder anderen gelungenen Vers, den einen oder anderen anregenden Gedanken finden. Das viele Halbgare, das sie hervorgebracht haben, wollen wir ihnen verzeihen - wir werden es dafür vielleicht bei einem anderen gar gekocht finden. Der Ehrgeiz, es besser machen zu wollen als sämtliche Vorgänger, der ist es, welcher uns täglich tiefer in jenes Unglück sinken lässt, in dem wir stecken. Es gibt unendlich viele herrliche Bücher. Wenn ich manchmal die Disziplin aufbringe und eines von ihnen lese, werde ich davon gepackt, bin ergriffen, überwältigt, sprachlos. Es ist alles vorhanden, man muss sich seiner nur bedienen. Es ist sogar mehr vorhanden denn je - das hängt mit unseren Archivierungsmöglichkeiten zusammen, mit unseren Techniken, mit den Medien: Nie war so viel so präsent wie heute. Was natürlich kein Grund ist, nicht trotzdem noch etwas Weiteres hinzufügen zu wollen, denn alles war und ist immer da, muss aber auch alles immer täglich neu entstehen, denn das ist das Leben: immer schon da, immer neu entstehend.


 

«Einsichten - Aussichten» im Februar 2011: Catherine Safonoff

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