Unbekannte Briefe einer Verzweifelten

Im Nachlass der Übersetzerin und Feuilletonredakteurin Florianna Storrer-Madelung fand sich unverhofft ein Konvolut mit rund 40 Briefen von Annemarie Schwarzenbach.

Von Moritz Wagner

 
 
 
 

Samedan im Engadin, 23. Mai 1938: Annemarie Schwarzenbach feiert ihren 30. Geburtstag und greift zur Feder. Das irrlichternde Schriftbild zeugt von zittriger Hand und ist ein deutlicher Spiegel dessen, was das Geburtstagskind seiner Freundin Florianna vom Rosengartenweg in Basel anvertraut. Schwarzenbach schreibt, sie sei geschwächt infolge Magenspülens und einer «Schlafmittelvergiftung – wollte die qualvollen Tage der ‚Entziehung‘ durchschlafen!» Es ist bereits der zweite Suizidversuch, den sie in der Chesa Dr. Ruppaner unternimmt und die erste von vier Entziehungskuren allein 1938, denen sich die morphiumsüchtige Patientin unterzieht.

 
The «poodle face» in action: Briefe Annemarie Schwarzenbachs aus vier Kontinenten.
The «poodle face» in action: Briefe Annemarie Schwarzenbachs aus vier Kontinenten.
© Simon Schmid, NB

Im Nachlass Florianna Storrer-Madelungs haben sich rund 40 unbekannte Briefe der Schweizer Autorin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach aus den Jahren 1937–1942 erhalten. Kennengelernt haben sich die beiden ungleichen Frauen über die Basler National-Zeitung, für deren Feuilleton Storrer seit 1930 als Hilfsredakteurin vor allem «Die Seite der Frau» betreut. Bald entwickelt sich die Bekanntschaft zu einer kurzen Liebesaffäre und schließlich engen Freundschaft. Die zwischen Nähe und Distanz oszillierenden Briefe sind beredtes Zeugnis von Schwarzenbachs Ängsten und zeitweiliger Hoffnungslosigkeit. In einem der Freundin zugeeigneten Gedicht betont Storrer den Kontrast zwischen der eigenen Vitalität und Lebensbejahung und Schwarzenbachs Gefühl der Abgestorbenheit. Diese entgegnet: «Man kann mich leicht gewinnen, weil ich Liebe brauche und für Liebe dankbar bin».

Für Schwarzenbach wird der Brief zum zentralen Medium der (Selbst-)Aussprache. In einem beeindruckend offenherzigen Brief vom 2. März 1938 aus dem geliebten Rückzugsort Sils-Baselgia, wo auch Florianna zu Gast war (Bild), rechtfertigt Schwarzenbach ihren Schreibstil anlässlich der «Missbilligung» des Basler Feuilletonchefs Otto Kleiber. Aus den Briefen geht hervor, welch hohen Stellenwert die Schreibarbeit für Schwarzenbach besass, und welchen Dienst Storrer der krisengeplagten Freundin dabei erweisen konnte: «Überhaupt, Florianna, – kannst Du mir nicht einige Aufträge geben? Du würdest mir so helfen. Arbeit ist das Einzige, was mich aus der bittern, fast unerträglichen Resignation [...] herausreisst. Bitte!»

Die von insgesamt vier Kontinenten verschickten Briefe spiegeln ausserdem die immense Schaffenskraft und Neugierde der rastlosen Reisereporterin unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkriegs:  «Da ich eventuell schon in 14 Tagen wieder nach Lissabon, u. von dort eine sehr ungewisse Reise nach Afrika antreten muss, gibt es viel zu tun, – und ich bin etwas wie unter einem Albdruck.» (31.3.1941) Während die NS-Verbrechen nicht direkt berührt werden, schlagen sich die Zeitläufte durchaus in den Briefzeugnissen nieder. Aus den USA berichtet Schwarzenbach von einem Besuch mit ihren ins Exil gegangenen Freunden Klaus und Erika bei der Familie Mann in Princeton. Sie äussert die Befürchtung einer faschistischen Entwicklung in den USA. Aus Belgisch-Kongo folgt im Herbst 1941 die Nachricht: «Zurück kann ich jedenfalls nicht bevor sich die Kriegslage nicht völlig ändert.»

Storrer stellte Schwarzenbachs Leben unter das Nietzsche-Motto «fugitivus et errans» und schrieb nach deren Tod: «Die Besten werden in die größten Gefahren geführt, aber auf der Suche nach sich selbst können sie sich nie ganz und gar verlieren. Nur die zutiefst sich Irrenden verlieren sich selbst, weil sie nicht den Mut haben sich selbst zu finden.» Keine Irrende, wie Arnold Kübler in seinem Nachruf im Du geschrieben hatte, sondern eine ihr Leben lang Suchende sah sie in der frühverstorbenen Freundin.

Bedeutsam ist das Briefkonvolut nicht zuletzt deshalb, weil ein Grossteil der Briefe Schwarzenbachs nach ihrem Tod vernichtet wurde. Die vorliegende Korrespondenz stellt eine wichtige Quelle zur weiteren Erforschung ihres Lebens und Schreibens dar und kann ein Baustein für eine noch zu leistende Edition ihrer Briefe sein.

 

Florianna Storrer-Madelung: 1902 in Russland als Tochter des dänischen Schriftstellers Aage Madelung geboren, 1997 verstorben. Ab 1930 arbeitete sie bei der Basler «National-Zeitung». Ausserdem war sie Übersetzerin. Ihr Nachlass ist seit 2019 im Literaturarchiv.

 

Letzte Änderung 18.11.2019

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